Caravan
Seine massige Gestalt nimmt den ganzen Bürgersteig ein. Er hat die Jacke ausgezogen und trägt ein dunkelblaues
Hemd, das in seinem Hosenbund steckt. Der Pferdeschwanz hängt strähnig zwischen seinen Schultern hinunter. In der rechten
Hand hat er eine Pistole, die er locker um den Zeigefinger schlenkert. Ein paar Meter weiter steht Irina, regungslos, den
Mund weit aufgerissen. Dahinter, ebenfalls mit dem Gesicht zu ihm, steht Lena, in schwarzen Strumpfhosen und lächerlichen
Stöckelschuhen. Ihr Mund ist ein knallroter Schlitz. Ihr Gesicht ist ausdruckslos, vollkommen leer.
»Stopp!«, schreit Andrij. »Stopp!« Er wühlt in seinem Rucksack nach dem Revolver. Wo ist das Ding?
Vulk dreht sich um. Hund und Andrij rennen auf ihn zu. Sie sind noch fünf Meter entfernt.
|370| »Zu spät, Junge«, sagt er höhnisch. »Ich hab Mädchen. Hau ab.« Er hebt die Pistole.
Andrij bleibt stehen. In diesem Moment des Zögerns knurrt Hund, dann fletscht er die Zähne und springt. Er hat beim Laufen
so viel Schwung aufgenommen, dass er, als er all seine Kraft in diesen letzten Sprung legt, zu fliegen scheint – eine schwere,
muskulöse Masse, die wie eine Rakete auf Vulk zuschießt, direkt vor die Pistole. Vulk drückt ab. Hund jault – ein langes,
klagendes Jaulen. Mitten in der Luft geht ein Zittern durch seinen Körper, dann spritzt Blut aus seiner Brust, er fällt, doch
er hat immer noch so viel Schwung, dass er Vulk mitreißt. Vulk stürzt nach hinten und schlägt mit dem Kopf hart auf das Pflaster.
Auf ihm landet der riesige, blutende Hund, winselnd, sterbend. Die Pistole ist Vulk aus der Hand gefallen und schlittert über
das Kopfsteinpflaster.
Irina hat sich in eine Gasse zwischen zwei Bürohäusern geflüchtet. Andrij will sich auf die Pistole stürzen, doch Lena macht
einen Schritt nach vorn und stellt ihren Fuß darauf. Sie bückt sich, nimmt die Waffe und zielt auf Andrij.
»Hau ab.«
Er protestiert nicht. Er läuft los. Als er in die kleine, dunkle Gasse einbiegt, hört er hinter sich einen Schuss.
Ich werde Hund immer so in Erinnerung behalten, wie ich ihn zum letzten Mal sah – als er durch die Luft flog, dunkel und ernst
wie ein schwarzer Racheengel, mit gebleckten Zähnen, die wie Dolche blitzten. Ich sah seine Augen, bevor er starb. Sie waren
tief, samtig braun und unergründlich. Mir war nie aufgefallen, wie schön seine Augen waren. Selbst die Augen eines Racheengels
können voller Mitleid sein. Von diesem Moment an hatte ich seine schrecklichen Pinkel- und Schnüffel- und Fressgewohnheiten
vergessen, und ich erinnerte |371| mich nur noch daran, wie er aussah, als er zu meiner Rettung eilte. Oft frage ich mich, was er in diesem Moment gedacht hat.
Wusste er, dass er sterben würde?
Andrij war so erschüttert, dass er noch einmal zurückwollte, um den Hund zu holen, aber ich weigerte mich. Ich sagte, der
Hund sei tot, und wir könnten nichts tun, um ihn wieder lebendig zu machen. Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich
weg von diesem Ort.
Ein paar Minuten später hörten wir das Heulen von Sirenen und sahen, wie am Ende der Straße Blaulichter vorbeirasten. Wir
fanden ein Tor hinter ein paar Müllcontainern, das zu einem Parkplatz auf der Parallelstraße führte, und dort schlugen wir
die entgegengesetzte Richtung ein. Wir versuchten auszusehen wie ein ganz normales junges Pärchen, das spazieren geht, und
bemühten uns, nicht zu rennen. Andrij legte den Arm um meine Schultern und ich schmiegte mich an ihn. Wir zitterten beide
noch. Erst jetzt dachte ich daran, welche Angst auch Andrij ausgestanden haben musste. Irgendwie war es komisch, weil man
doch eigentlich immer glaubt, dass Männer furchtlos sind – aber warum sollten sie das sein?
Über eine Stunde wanderten wir durch die Straßen. Sheffield – es war ganz anders, als Andrij es beschrieben hatte, keine Paläste
und Bougainvilleen und all das Zeug. Aber dafür auch keine Arbeitersanatorien und Gemeinschaftsschlammbäder. Eigentlich war
alles ganz normal. An den Geschäften waren inzwischen die Rollläden unten und die Menschen gingen nach Hause. Die Straßen
waren verstopft. Und vielleicht lag in einer Seitenstraße eine Leiche. Das hätte ich sein können.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich Andrij.
»Ich weiß nicht. Wo möchtest du hin?«
»Ich weiß nicht.«
|372| Ich fragte mich die ganze Zeit, was der letzte Pistolenschuss zu bedeuten hatte. Er ging mir nicht aus dem
Weitere Kostenlose Bücher