Caravan
Portugiesen. Verrückt, oder? Was für ’ne total, total verrückte Welt. Hast du den Film
gesehen? Bin ich mit meiner Oma dringewesen, drüben in Folkestone. Der beste Film, den ich je gesehen hab.«
»Sehr.« Tomasz schüttelt den Kopf.
»Warst du schon mal in Folkestone? Meine Oma hat mich immer mitgenommen, als ich klein war. Sie nennen’s Folkestone Freizeitstrand.
Freizeit am Arsch. Hab ich auf das Straßenschild geschrieben. Wenn du mal nach Folkestone |161| kommst, kannst du’s noch sehen. Freizeit am Arsch. Ja, das hab ich geschrieben.«
»Interessant.«
»Ja, ich hab ein Zeichen gesetzt.«
»Was ist Mindestlohn in England?«
»Keine Ahnung. Nicht viel. Habt ihr so was, wo du herkommst? In Polen?«
»Wir haben sehr berühmte Gewerkschaft. Heißt Solidarność. Kennst du?«
»Klingt wie was zu essen. Hehe. Tja, ich schätze, ich geh nach Brasilien.« Die Information lässt er so beiläufig fallen, dass
Tomasz, der noch über Gewerkschaften nachdenkt, es fast nicht mitkriegt. Er sieht den Jungen mit neuem Interesse an.
»Du willst auf Entdeckungsreise gehen?«
In dem Alter war er genauso gewesen, voller Träume davon, fortzugehen. Als er siebzehn war, waren die Zeiten natürlich noch
kommunistisch und man konnte nur Reisen nach innen machen. Er erinnert sich, wie ein Freund eine Raubkopie von Bob Dylan ergattert
hatte und sie zu viert in der geschlossenen Garage im Wagen seines Vaters saßen, bis die Fenster beschlugen. Wie gebannt hatten
sie der Musik gelauscht und es war, als hörten sie die Freiheitsglocken läuten. In jedem Leben kommt ein Punkt, wo man sich
freimachen kann von dem, was bis dahin selbstverständlich war, und eine neue Richtung einschlagen. Jener Abend in der Garage
war in seinem Leben der Wendepunkt gewesen. Er hatte sich selbst Englisch beigebracht, um die Lieder zu verstehen, und ein
paar Monate später kaufte er von einem tschechischen Zigeuner, der zufällig durch Zdroj kam, eine gebrauchte Gitarre. Und
er hatte sich ein Versprechen gegeben: Eines Tages würde er in den Westen gehen.
»Entdeckungsreise? Hehehe. Das ist gut«, sagt Neil.
|162| »Irgendwann, wenn ich genug Geld hab, geh ich nach Brasilien. Das is mein Traum. Hat doch jeder einen Traum. Deswegen bring
ich mir das Rauchen bei.« Er wirft einen Blick zu den vier Portugiesen-Brasilianern, die die Overalls wieder zugemacht haben
und zurück zur Halle gehen. »Vielleicht war denen ihr Traum, nach England zu kommen. Nach England zu kommen und knietief in
der Hühnerkacke zu waten. Komischer Traum, oder?«
Die vier Portugiesen-Brasilianer fangen an, die Kisten auf die Lastwagenpritsche zu laden. Sie winken Tomasz und Neil, die
widerwillig hinübergehen. Dann bilden sie eine kurze Kette und werfen einander die Kisten zu, in denen die zusammengedrängten
Hühner panisch kreischen, wenn sie durch die Luft fliegen und schließlich mit einem Rums auf der Pritsche landen. Es ist kaum
zu glauben, wie viele Kisten sie vollgekriegt haben, und doch scheinen die Hühner in der Scheune kaum weniger geworden zu
sein.
Als der Lastwagen fort ist, geht es zurück in die Scheune, noch mehr Kisten mit Hühnern vollpacken. Der Tag zieht sich hin,
öde, schmutzig und aufreibend. Tomasz’ Arme fühlen sich an, als würden sie bald abfallen. Seine Beine und Unterarme sind voll
mit blauen Flecken vom Picken und Treten der kämpfenden Hühner. Aber noch schlimmer fühlt sich seine wunde Seele an. Allmählich
verliert er das Mitgefühl für die Hühner als lebendige, fühlende Kreaturen, und damit hört auch er auf, eine lebendige, fühlende
Kreatur zu sein. Irgendwann wirft er fünf Hühner auf einmal in die Kiste, mit solchem Schwung, dass sich eins den Flügel bricht.
Was passiert mit dir, Tomasz? Was für ein Mensch ist bloß aus dir geworden?
Am Ende des Nachmittags liegen überall auf dem Boden tote und sterbende Hühner, manche wurden in den Staub und den Kot getreten,
manche flattern noch, kämpfen um |163| ihr Leben. Auch Tomasz’ Seele fühlt sich an wie ein sterbendes Huhn, flattert im Sumpf des … des … Vielleicht ist da ein Song drin, aber welche Akkorde wären melancholisch genug, um diese Trostlosigkeit auszudrücken?
»Haben wir so viele getötet?«, flüstert er.
»Nee, keine Sorge, Kumpel«, sagt Neil. »Die meisten waren schon tot. Wenn sich eins ein Bein bricht oder zu schwach ist, kommt
es nicht mehr bis zur Futterstrecke und verhungert. Verrückt
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