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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ab. Einen Moment bleibt es verwirrt stehen und blinzelt im hellen Tageslicht. Tomasz
     beugt sich noch einmal rüber, gibt ihm einen Schubs und flüstert auf Polnisch: »Lauf, Hühnchen, lauf!« Das Huhn zögert noch
     einen Moment, aber dann rennt es plötzlich los, so schnell es seine kurzen, verkümmerten Beine tragen, und verschwindet unter
     der Hecke.
    Die anderen sind Tomasz nach draußen gefolgt und sehen ihn verblüfft an.
    »Was machste da, Mick?«, fragt Neil.
    Tomasz dreht sich mit einem irren Grinsen um. »Rugby. Punkt für mich.«
    |166| Bis sie abends fertig sind, ist er so ausgebrannt, dass er sich sogar nach der schmutzigen Matratze zwischen fünf verschwitzten
     Fremden sehnt. Die vier Portugiesen-Brasilianer sind mit dem Lastwagenfahrer irgendwohin losgezogen. Doch Tomasz ist zu müde,
     um mitzugehen, und beschließt stattdessen, frische Luft zu schnappen und runter ins Dorf zu gehen, vielleicht kann er dort
     was zu essen kaufen. Die beiden Doppelhaushälften stehen am Rand von Titchington, einem Dorf, wo sich reizende Cottages mit
     spitzen Giebeln und rosenbewachsenen Gärten um eine hübsche mittelalterliche Kirche drängen. Tomasz fragt sich, ob die Bürger
     wissen, welche Gräueltaten sich vor ihrer Haustür abspielen. Es heißt, dass die Landbevölkerung in der Gegend von Treblinka
     nur eine vage Vorstellung hatte, was hinter dem Stacheldrahtzaun ein paar Kilometer weiter geschah. Doch musste sie der Gestank
     gestört haben, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung kam, genau wie die Bewohner von Titchington.
    Im Dorf gibt es weder Laden noch Gasthaus. Bestürzt stellt er fest, dass er gar nichts zu essen hat, und hier kann er sich
     auch nichts kaufen. Er geht zurück zum Haus. Es ist kein Mensch da. Die Schläfer sind verschwunden, nur der Geruch und die
     schäbigen Taschen und überquellenden Plastiktüten an der Wand erinnern daran, dass sie da gewesen sind. Tomasz durchsucht
     die Küchenschränke und findet ein paar Scheiben hartes Brot und eine Dose Tomaten. In einer Schublade ist ein Dosenöffner.
     Er isst die kalten Tomaten aus der Dose und stippt den Saft mit dem alten Brot auf. Danach hat er immer noch Hunger. Wenn
     es wenigstens ein paar Sardinen gäbe. Oder Schokoladenkekse. Und ein schönes Glas Wein. Chianti. Rioja. Er fragt sich, wo
     Jola und Marta sind, und was sie essen. Kaninchen vielleicht. Oder Fisch. Er kann es fast riechen, die aromatischen Kräuter
     und |167| Jolas duftende Seife, sie reicht ihm den Teller und lächelt ihn an.
Komm, iss, Tomek!
    Dann klopft es an der Tür, und bevor er sich aufgerappelt hat, kommt Neil herein. Statt des Overalls trägt er jetzt Jeans
     und eine schwarze Lederjacke, und er hat einen Motorradhelm unter dem Arm. Mit der anderen Hand hält er eine Papiertüte hoch.
    »Hier, Mick. Ich hab was für dich.«
    Die Tüte ist warm. Tomasz öffnet sie. Darin ist in einer Aluschale eine Pastete mit Hähnchen und Pilzen.
    »Danke.« Er stellt die Schale auf den Tisch. Es duftet stark und köstlich nach Essen. Ob wegen der Müdigkeit oder der schrecklichen
     Erlebnisse auf der Hühnerfarm, oder einfach wegen der Einsamkeit, jedenfalls hat Tomasz Tränen in den Augen. »Danke. Du hast
     mich vor Trübsalstrakt gerettet.«
    »Trübsalstrakt.« Neil nickt. »Das ist gut. Ist das ein Film?«
    »Ein Song.«
    »Das ist gut.«
    »Und viel Glück auf deiner Reise.«
    »Ja«, der Junge schlurft rückwärts zur Tür. »Ja. Ich komm da schon noch hin.«
     
    In der Nacht scheint der Vollmond durch die offenen Vorhänge und beleuchtet die fünf Schläfer, die eingerollt auf den Matratzen
     am Boden liegen – fünf Fremde, die nach Mitternacht aufgetaucht sind und solchen Lärm gemacht haben, dass Tomasz, der drei
     Stunden zuvor ins Bett gegangen war, davon aufwachte. Jetzt kann er trotz seiner Erschöpfung nicht mehr einschlafen. Er lauscht
     dem tiefen rhythmischen Atmen der Fremden und starrt den Mond an. Er denkt an das Huhn, das fortgelaufen ist. Schläft es heute
     Nacht im Mondschein unter der Hecke? Genießt es die Freiheit? Was ist Freiheit?
    |168| »Die nächsten paar Tage musst du Hühnerkacke wegmachen, dann schicken sie dich zum Schlachthof«, hat Darren gesagt, und Tomasz
     schauderte.
    »Gibt es nicht anderen Job, den ich machen kann?«
    »Nee, Kumpel. Du musst dorthin gehen, wo man dich hinschickt.«
    »Wo Schwarz die Farbe ist, und Null die Zahl.«
    Darren hatte ihn komisch angesehen.
    Ist er heute im Westen freier als in Polen im

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