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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Ohne Handschuhe ist zu gefährlich.« Aus irgendeinem Grund war er nicht auf
     den Vorarbeiter wütend oder auf die Fabrikbesitzer, sondern immer noch auf Vitali.
    »Hör zu, Kumpel, die Leute hier machen diese Arbeit schon seit fast zwei Jahren ohne Handschuhe.«
    »Und?«
    »Wir haben erst drei Finger verloren. Na ja, vier, wenn du den Daumen mitzählst.«
    »Ohne Handschuhe mache ich nicht.«
    »Wo kommst du her?«, fragte der Vorarbeiter.
    »Aus Polen.« Tomasz lächelte. Er wusste, das war nicht die Antwort, die der Mann hören wollte.
    »Hätte ich mir denken können. Scheiß-Unruhestifter. Als Nächstes verlangst du Mutterschutz. Hier, warte. Dann machst du eben
     an der Kette weiter, bis ich ein paar beschissene Handschuhe für dich gefunden habe.«
    »Nein«, sagte Tomasz, »auch für Arbeit an Kette brauche ich Handschuhe.«
    Das Gesicht des Vorarbeiters nahm eine furchterregende lila Farbe an. »Hör mal, du polnische Krawallschachtel, das nächste
     Mal, wenn du mir frech kommst, sitzt du auf der Straße. Wenn wir den verdammten Chinesen nicht verloren hätten, wärst du schon
     längst draußen.«
    Aber er zog los und fand ein Paar Handschuhe. Tomasz zog sie langsam, nachdenklich an, einen Finger nach dem anderen. Irgendwas
     von dem, was der unsympathische Vorarbeiter gesagt hatte, erinnerte ihn an Jola: Wo war sie? Was machte sie? Dachte sie noch
     an ihn?
     
    |179| In den anderen Abteilungen der Fabrik bedeutete der plötzliche Stillstand des Fließbands eine willkommene Pause. Jola seufzte
     und sah sich um. Solange es lief, hatte sie gar nicht gemerkt, wie laut das Fließband war. Die schmalen Fenster der Verpackungsabteilung
     waren so hoch oben, dass man nicht hinaussehen konnte, aber das Licht, das hereinfiel, erinnerte sie daran, dass draußen Sommer
     war. Wie war sie bloß in diesem Gefängnis gelandet? Der Druck auf ihrer Blase wurde immer stärker, aber der Gedanke, dass
     sie Geta um Erlaubnis bitten musste, wenn sie aufs Klo wollte, war einfach zu demütigend. Sie hielt es aus. Um sie herum nutzten
     die anderen die Gelegenheit, sich auszuruhen und mit ihren Nachbarinnen zu schwatzen. Zwei der Slowakinnen versuchten sogar,
     sich rauszuschleichen und frech eine Zigarettenpause einzulegen, aber Geta rannte hinter ihnen her und schrie: »Kein Rauch!
     Wegen Hygien!«
    Jola fand, dies war ein guter Zeitpunkt, um selber unbemerkt durch die Tür zu schlüpfen, doch Geta entdeckte sie und bestand
     darauf, Jola zu begleiten, weil es, behauptete sie, in ihrer Verantwortung lag, dafür zu sorgen, dass die Toilettenbesuche
     nicht missbraucht wurden, vor allem von Polinnen und Ukrainerinnen, man wusste ja nie, was die da drin machten, und manchmal
     kam sogar Rauch unter der Tür durch. Wie sollte man sich bei einer kleinen Toilettenpause entspannen können, wenn dabei dieser
     unterdrahtete Drache vor der Tür stand und dauernd an die Tür klopfte und einen hetzte? Also schloss sich Jola unnötig lange
     in ihrer Kabine ein und machte alle möglichen Klogeräusche, nur um Geta zu ärgern.
    »Und vergess nicht, danach Hand waschen«, keifte Geta.
    »Warum sagst du mir das?«, zischte Jola hinter der abgeschlossenen Kabinentür zurück, »ich bin Lehrerin, kein Dreckschwein.«
    |180| »Ich bin Lebensmittelhygien Qualifikation, du nicht«, quäkte Geta.
    »Ich pisse auf deine Urkunde.«
    »Kein Urkunde, Diplom.«
    »Ich scheiß auf dein Diplom.«
    Jola furzte laut.
     
    In der Zwischenzeit ging Marta um das Fließband herum und unterhielt sich mit den jungen Frauen auf der anderen Seite, die,
     wie sich herausstellte, aus der Westukraine kamen, und eine war schon mal in Polen gewesen, wenn auch nicht in Zdroj. Und
     so war Marta, wie viele andere in der Fabrik, gerade nicht an ihrem Platz, als sich das Fließband mit einem Beben wieder in
     Bewegung setzte, und musste rennen, um die ersten Hühnchen, die durchkamen, zu erwischen. Sie nahm sie vom Band; seltsamerweise
     fühlten sie sich abstoßend fest und holzig an – genau genommen wie gekocht   –, mitsamt den Füßen und den Innereien in ihrem Bauch. Aber während sie sich noch fragte, was sie mit den grausigen, im Ganzen
     gekochten Viechern anfangen sollte, kam schon das nächste Huhn über das Fließband, das eindeutig nicht lebendig gekocht worden
     war, sondern – auch wenn ihm ein Großteil der Federn fehlte – noch ziemlich unversehrt aussah und irgendwie um das Fußabschneiden
     und Ausweiden herumgekommen war. Und als sie danach

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