Caravan
erschöpften
Schläfer, in dem modrigen Schrank unter der Treppe. Die Gitarre blieb verschwunden. Er hatte alles abgesucht. Jemand hatte
sie gestohlen. Einer dieser verzweifelten, namenlosen Männer aus irgendeinem verarmten oder vom Krieg gebeutelten Land hatte
seine Gitarre gestohlen und wahrscheinlich längst eingetauscht – wofür? Eine Flasche Wodka? Eine Pastete mit Hühnchen und
Pilzen?
Diesmal weinte er nicht einmal. Wozu?
Milo ließ ihn vorn sitzen, weil er der Erste war, der abgeholt wurde. Als er einstieg, gab es ihm einen Stich, weil ihm einfiel,
dass er sich nicht von Neil verabschiedet hatte, seinem einzigen Freund. Jetzt wurde er zu einer neuen Unterkunft |176| in einem Strandhotel in der Nähe von Shermouth gebracht, näher am Schlachthaus der weiterverarbeitenden Fabrik, wo um halb
sieben seine Schicht anfing. Hätte er hinten gesessen, hätte er es wahrscheinlich gar nicht gesehen. Aber vorn auf dem Beifahrersitz
war ihm der Anblick nicht erspart geblieben: Dort an der Biegung vor ihnen, mitten auf der Straße, lagen die zerquetschten
Überreste eines totgefahrenen weißen Huhns. Da hatte seine Freiheit also geendet. Milo trat aufs Gas und fuhr genau darüber.
Da muss ein Song drin sein, dachte Tomasz; aber dann fiel ihm wieder ein, dass seine Gitarre weg war.
Das, was ihn endgültig davon überzeugte, wie viel er und die Hühner gemeinsam hatten, ereignete sich allerdings erst später
am Vormittag: der Vorfall mit dem Daumen des chinesischen Schlachters.
Wenn die Hühner am Schlachthof ankamen, war es Tomasz’ Aufgabe, sie mit den Beinen an den Halterungen einer Förderkette aufzuhängen,
von der sie herunterbaumelten und hoffnungslos kreischten, vor allem die mit den gebrochenen Beinen (inzwischen war Tomasz
gegen das Kreischen immun), bis das Förderband sie kopfüber durch ein Bad mit elektrisch geladenem Wasser schickte, das sie
betäuben sollte, bevor ihnen von einem automatischen Messer die Kehle durchgeschnitten wurde.
Nur für den Fall, dass das Elektrobad nicht funktionierte oder die Klinge danebentraf, was nicht selten vorkam, standen ein
paar Schlachter daneben, um ihnen den Hals durchzuschneiden, bevor sie durch den Dampfraum wanderten, wo sie in ein kochendheißes
Becken getaucht wurden, das die Federn lockerte. Dann wurden sie automatisch gerupft und entfußt und anschließend von einem
weiteren Schlachterteam ausgeweidet.
Die Schlachter waren Chinesen, die gut mit dem Messer |177| umgehen konnten, aber sie waren etwas zu klein für die Förderkette, so dass sie nicht immer sehen konnten, was sie taten;
und so geschah es, dass einer von ihnen, als er nach einem Huhn griff, das im automatischen Fußabschneider steckengeblieben
war, es irgendwie schaffte, sich die Daumenspitze abzusäbeln, genau oberhalb des ersten Gelenks. Zuerst konnte man ihn über
dem Krakeelen der Hühner nicht mal schreien hören. Tomasz stoppte die Förderkette und rannte los, um den Vorarbeiter zu finden,
der sofort sein Handy herausholte und hineinbrüllte, dass er unbedingt einen Ersatzschlachter brauchte, während die anderen
im Blut, der Hühnerkacke und den Federn auf dem Schlachthausboden herumkrochen, um das Daumenstück zu finden; doch es blieb
verschwunden, und die ganze Zeit schrie und stöhnte der Mann und ballte die Hand zur Faust und versuchte, die Blutung zu stoppen.
Am Ende gaben sie die Suche nach dem Stück Finger auf und jemand fuhr ihn zum Krankenhaus, damit die Wunde eben so gut es
ging genäht wurde.
Dann fing der Vorarbeiter an, Tomasz anzuschreien, weil er die Förderkette angehalten hatte.
»Wir verlieren Geld, du Blödmann, stell endlich die verdammte Förderkette wieder an, damit wir die verdammten Hühner weiterschicken
können, Herrgott noch mal. Oder glaubst du vielleicht, wir sind hier im Robinson-Club?«
Er sah aus, als wäre er nur ein paar Jahre älter als Neil – ohne die Akne, aber auch ohne den Charme.
»Hier«, er drückte Tomasz das Messer des Schlachters in die Hand, das immer noch voll Blut war, wobei man nicht sehen konnte,
ob es das vom Chinesen oder von den Hühnern war. »Du übernimmst, bis der Ersatz hier ist.«
Wenn ich einen Finger verliere, dachte Tomasz, kann ich nie wieder Gitarre spielen.
|178| »Handschuhe. Ich brauche Lederhandschuhe.«
Der Vorarbeiter sah Tomasz mit zusammengekniffenen Augen an. »Willst du hier Ärger machen, oder was?«
»Handschuhe, wie wir hatten sie bei Hühnerfangen.
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