Caravan
griff, fing das arme, schlaffe federlose Ding plötzlich in ihren Händen
zu flattern an. Es lebte noch! Und auch das nächste Huhn, das durchkam, war zu ihrem Entsetzen noch lebendig. Zumindest halb.
Und dann noch eins. Das Fließband hatte inzwischen beschleunigt und lief wieder im normalen Tempo. Was sollte sie nur tun?
Sie nahm die drei halblebendigen Hühner vom Laufband und schrie.
|181| Der litauische Vorarbeiter war als Erster bei ihr. Er legte beruhigend den Arm um sie und reichte ihr ein Taschentuch. Dann
kam Geta, die ihre schnöde Toilettenwache aufgegeben hatte. In der Zwischenzeit hatten sich die Hühner von ihrem Schrecken
erholt und begannen auf dem Fabrikboden herumzurennen. Während die gekochten Tiere auf dem Fließband davonfuhren, kamen jetzt
immer mehr halblebendige Hühner herein, und immer schneller. Geta fing an, Marta anzuschreien und die drei nackten Hühner,
die den Leuten zwischen den Beinen herumrannten, und den litauischen Vorarbeiter, der zurückschrie, dass sie Marta, die eine
zartfühlende Frau war, nicht so erschrecken dürfe.
»Polin nicht zartfühlig, sondern faul Sau!«, schrie Geta, was zu viel für Marta war, die in Tränen ausbrach. Dann stürzte
eins der Hühner auf die Tür zu, die Geta offen gelassen hatte, und die beiden anderen folgten ihm bis in die Verpackungsabteilung.
Auf der anderen Seite der Verpackungsabteilung öffnete sich eine weitere Tür, denn Jola, die gemerkt hatte, dass sie für ihre
Klogeräusche kein Publikum mehr hatte, kam gerade zurück in die Halle geschlendert. Als sie die Hühner sah, die auf sie zugerannt
kamen, hielt sie ihnen instinktiv die Tür auf. Und schon waren sie fort.
»Gefeuer! Gefeuer! Du gefeuer!«, schrie Geta, das Gesicht fleckig vor Wut, und versetzte Jola einen Stoß.
»Selber gefeuert!«, schrie Jola und schubste zurück.
Jola war in der Brustabteilung nicht ohne Freunde, und sie hatte Freunde von Freunden bei Schenkeln und Flügeln, und auch
Marta würde nicht dabeistehen und zusehen, wie ihre Tante beleidigt wurde, und so fand sich Geta plötzlich von einer wütenden
Menge umzingelt, die verlangte, dass sie sich bei Jola entschuldigte und sie sofort wieder einstellte.
|182| Die Nachricht vom Daumen des chinesischen Schlachters verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Fabrik. In der Ausweideabteilung
war es der ganze Daumen, den der arme Mann verloren hatte; bei den Schenkeln und Flügeln war es die ganze Hand, und in der
Wiege- und Etikettierabteilung musste ihm der Arm oberhalb des Ellbogens amputiert werden. Die Chinesen marschierten mit stampfenden
Füßen auf, die Taschen voll mit Hühnerfüßen, und stimmten unverständliche Parolen an, andere befreiten die Hühner aus den
Förderketten, so dass sie tot und halbtot auf das Fließband und auf den Boden fielen.
Plötzlich flogen mehrere Türen gleichzeitig auf, und die gesamte Belegschaft stürmte hinaus in den hellen Sonnenschein. Die
drei nackten Hühner auf dem Hof gluckten und fragten sich, was wohl als Nächstes passieren würde.
Tomasz sah, dass der blonde Mann mit den beeindruckenden Waden, der ihn für die Gewerkschaft angeworben hatte, immer noch
am Tor herumstand. Es sah aus, als wollte er gerade auf sein Fahrrad steigen und Feierabend machen, doch dann bemerkte er
den Aufruhr auf dem Fabrikgelände. Als Nächstes entdeckte Tomasz Jola. Sie kam aus einer der Türen gestürzt, lief dramatisch
auf den Gewerkschaftsmann zu und warf sich ihm an den Hals. Und so mischte sich Tomasz’ Wiedersehensfreude mit dem Schock,
sie in den Armen eines anderen Mannes wiederzusehen (oder umgekehrt).
»Sie sagt gefeuert! Mich gefeuert!«, weinte sie.
»Immer mit der Ruhe.« Die Stimme des Gewerkschafters war ruhig, es lag nur ein Hauch von Nervosität darin. »Wir müssen hier
geordnet vorgehen. Ist irgendjemand von der Geschäftsleitung da?«
Geta trat vor.
»Ist Polin nix gut arbeite. Zu viel Toilette. Hühner renne weg.«
|183| Die drei befreiten Hühner gackerten laut, wie um den Beweis zu liefern.
»Immer mit der Ruhe«, sagte der Gewerkschaftsmann wieder, und inzwischen klang er mehr nervös als ruhig. »Nehmen wir erst
mal die Fakten auf. Um was für Hühner geht es hier?«
Jetzt bahnte sich der Schlachthausvorarbeiter, mit dem sich Tomasz wegen der Handschuhe angelegt hatte, den Weg durch die
Menge.
»Hör zu, Kumpel, keine Ahnung, wer du bist und was du hier machst, aber du ziehst jetzt Leine, okay?« Zu
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