Carina - sTdH 3
Erstes Kapitel
Den ganzen Tag hatte es
heftig geregnet, aber gegen Abend riß die Wolkendecke auf, und das Dorf
Hopeworth mit den umliegenden regennassen Feldern wurde jäh in ein grelles
Licht getaucht.
Kleine
goldene Kräuselwellen tanzten unruhig auf dem Dorfweiher. Die Sonne stand
gleißend zwischen zwei riesigen purpur-schwarzen Wolkenfetzen, und der
aufkommende Wind wirbelte einen Schauer nasser brauner Blätter hoch und ließ
sie über die Hausdächer tanzen. Solche Sonnenuntergänge pflegten Sturmwind
anzukündigen; gelbe Sonnenuntergänge bedeuteten immer unruhige Nächte.
Squire
Radford zog seinen Wintermantel enger um seine alten Schultern und spürte
dabei, wie ihm der schwere Stoff lose um die spindeldürren Beine baumelte.
Als er auf
sein malerisches Häuschen zueilte, verfluchte er seine eigene Dämlichkeit, Sir
Edwin Armitages Einladung zum Tee im Herrenhaus angenommen zu haben.
Sir Edwins
hochmütige Frau hatte sich, wie üblich, eisig reserviert verhalten, und ihre
faden Töchter, Josephine und Emily, beide immer noch unverheiratet, hatten
abwechselnd in höchst ärgerlicher Weise gekichert und geschmollt.
Radfords
Gedanken wandten sich von Sir Edwin auf Sir Edwins Bruder, Hochwürden Charles
Armitage, Vikar von St. Charles and St. Jude in der Gemeinde Hopeworth. Obwohl
der Vikar ein enger Freund Radfords war und an sehr vielen Abenden vorbeikam,
merkte der Squire zu seinem eigenen Erstaunen, daß er zum erstenmal hoffte,
der auf Fuchsjagden versessene Vikar möge heute die Annehmlichkeit seines
eigenen Heims vorziehen.
Es war traurig
und ließ ihn seine Einsamkeit schmerzlich fühlen, mit ansehen zu müssen, wie
sich ein lieber Freund in seinem Wesenso
entsetzlich verändert hatte. Der Vikar war so aufgeblasen geworden, so voll
dünkelhafter Überheblichkeit, daß er ein ganz und gar anderer Mensch zu sein
schien.
Der Unsinn
hatte mit der Hochzeit der zweitältesten Tochter des Vikars, Annabelle,
begonnen, überlegte der Squire und zuckte zusammen, als der erste Windstoß an
seinem altmodischen, dreieckigen Hut zerrte.
Die älteste
Tochter, Minerva, hatte eine sehr gute Partie gemacht, als sie Lord Sylvester
Comfrey heiratete, und der Vikar hatte dieses Geschenk des Himmels mit
wohltuender Dankbarkeit angenommen. Wenig später hatte Annabelle den Marquess
of Brabington geheiratet, und wieder war der Vikar dankbar. Als Annabelle dann
mit ihrem Mann auf die Iberische Halbinsel gereist war, weil Brabington am
Krieg gegen Napoleon teilnehmen wollte, fand der Vikar Geschmack daran, daß
sich seine gesellschaftliche Stellung durch den Adelsstand seiner
Schwiegersöhne erheblich verbessert hatte. Er verbrachte außerhalb der
Jagdsaison soviel Zeit wie möglich in der Hauptstadt und kehrte eigentlich nur
noch aufs Land zurück, um sich auf immer ausgefallenere Anbauexperimente und
immer teurere Anschaffungen von Jagdhunden einzulassen.
Er war nun
stolzer Besitzer einer Meute von vierzig Hunden, einer lächerlich übertriebenen
Anzahl für einen Landpfarrer. Zwei Jahre waren mittlerweile seit Annabelles
Hochzeit vergangen; Lord Sylvesters Verwalter, der sich große Mühe gegeben
hatte, die Landwirtschaft der Armitages in Ordnung zu bringen, war auf die
Besitzungen seines Herrn zurückgekehrt; und wieder einmal sah sich der Vikar
dem finanziellen Ruin gegenüber.
Der Squire
kannte diesen Zustand von früher, aber niemals zuvor hatte Charles Armitage ihn
so rundheraus ignoriert.
Dabei waren
vier seiner Töchter noch unverheiratet und seine beiden Söhne in Eton; ihre
Zukunft war eine schwere Bürde für ihn.
Zwei volle
Jahre war es her, seit Annabelle den Marquess of Brabington geheiratet hatte.
Wie alt waren sie jetzt eigentlich alle?
Der Squire
stieß das hohe Eisentor auf, das zu seinem Haus führte, und murmelte Namen und
Alter der Kinder des Vikars vor sich hin.
»Laß sehen,
die Zwillinge Peregrine und James mögen zwölf sein. Minerva ist jetzt
einundzwanzig. Mein Gott! Wie schnell die Zeit vergeht! Annabelle wird
demzufolge neunzehn sein, was bedeutet, daß die dritte Tochter gerade achtzehn
ist; auch so eine Sache – der irische Taufname Deirdre war nicht mehr gut
genug, jetzt wurde sie Carina gerufen! Daphne ist sechzehn, Diana fünfzehn und
die kleine Frederica vierzehn.«
Der
indische Diener des Squire öffnete auf leisen Sohlen die Tür und half seinem
Herrn aus dem Mantel.
»Danke,
Ram«, sagte der Squire. »Ich bin bis aufs Mark ausgefroren. Bring mir den
Brandy in die
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