Carlotta steigt ein
wie Gloria.
Als ich die letzten Krumen mit
den Fingerspitzen auflas, war es schon nach drei; das hieß, daß Paolina von der
Schule zurück sein mußte. Die Imbißstube besitzt eine von diesen
Minitelefonkabinen, die die Telefongesellschaft neuerdings installiert, seit
Superman keinen Platz zum Umziehen mehr braucht. Ich haute auf die Tasten.
Manchmal vermisse ich tatsächlich die alten Telefone mit Wählscheibe.
«¿Allo?» Sie meldet sich am Telefon wie
ihre Mutter: «Allo?» statt «Hallo?». In der Schule und mit mir spricht sie
echten amerikanischen Slang. Nur daß sie ab und zu einmal einen Satz mit diesem
langgezogenen «Nooooo!» anfängt, das sofort den Kolumbianer verrät.
«¿Como esta usted?» erwiderte ich.
«Carlotta!» sagte sie sofort.
«Hey!»
Mein Schulspanisch hat immerhin
einen Vorteil. Es entlockt Paolina unfehlbar ein Kichern, und sie behauptet,
ich hätte einen Akzent wie ein venezolanischer Bauernpapagei.
Sie war merklich froh, mich zu
hören. Als ich noch Cop war, habe ich mich irgendwie nie an die Tatsache
gewöhnen können, daß Zuhälter und Nutten keineswegs erfreut waren, wenn ich
aufkreuzte. Selbst jetzt sind manche Leute nicht unbedingt davon erbaut,
jemanden wie mich in ihrem Wohnzimmer zu empfangen. Paolina ist für mich wie
heilsame Medizin, mein offizielles Empfangskomitee.
«Is was, Carlotta?» Manchmal
redet sie absichtlich schnodderig daher, um anzugeben.
«Hast du deine Prüfung in
Geschichte bestanden?»
«Du behältst wirklich alles .»
«Das ist keine Antwort.»
«Ich habe 88 Punkte. Aber ich
glaube, nach ihrem Zensurensystem müßte ich damit ein ‹Sehr gut› haben.»
«Hast du gebüffelt?»
«Ja.»
«Angst?»
«Zu Anfang, als Miss Vaneer die
Blätter verteilte, hatte ich Herzklopfen, klar, aber mir fiel ein, tief zu
atmen, wie du mir geraten hast, und dann war es okay. Ich habe mich nicht
abgehetzt oder so, und bin doch rechtzeitig fertig geworden.»
«Du warst großartig. Auch ohne
das Zensurensystem.»
«Wirklich?»
«Einfach super», sagte ich.
«Einfach super», plapperte sie
mir nach. Ich wußte, daß sie jetzt lächelte, und stellte sie mir am Telefon
vor, die Turnschuhe wie immer mit losen Schnürriemen, mit leuchtenden Augen.
Als ich Paolina kennenlernte,
war sie sieben Jahre alt, sah aus wie dreißig, dünn und zäh wie eine Gerte, und
hatte auf der rechten Wange eine Reihe von blauen Knöchelmalen, eine
Liebenswürdigkeit von seiten eines jener «Onkel», die immer zu Besuch kamen.
Marta, Gott segne sie, hatte für so was nichts übrig. Die Kerle konnten zwar
mit ihr umgehen, wie sie wollten — etwas, das ich nie begreifen konnte und nie
begreifen werde — , aber legten sie Hand an ihre Kinder, war Schluß. Als der
Typ, der Paolina geschlagen hatte, wiederkam, zeigte sie ihn lieber an, und
irgendeine freundliche Seele auf dem Polizeirevier schlug die Big Sisters für
das kleine verängstigte Mädchen mit den großen Augen vor.
Marta läßt Paolina nicht gerade
viel Lob zukommen, und schon gar nicht für Schularbeiten, denn sie glaubt
nicht, daß Frauen überhaupt einen Nutzen davon haben. Ich habe mit ihr darüber
gesprochen, und wir haben uns irgendwie darauf geeinigt, geteilter Meinung zu
sein. Also versuche ich, die Lücke zu füllen. Ich informiere mich genau, wann
Prüfungsarbeiten anstehen und wie es um die Zensuren bestellt ist, und ich bin
außerordentlich großzügig mit Lob. Paolina pflegte so große Angst vor Prüfungen
zu haben und so sicher zu sein, daß sie durchfallen würde, daß sie vorher schon
ohnmächtig wurde oder sich erbrach. Prüfungstage verbrachte sie im allgemeinen
in der Krankenstube. Und jetzt heimst sie Einsen und Zweien ein.
Bin ich stolz? Nicht so, daß es
Ihnen auffallen würde, vorausgesetzt, Sie sind blind und taub.
«Hör mal, Samstag...» sagte
ich.
«Kannst du nicht?» Paolina ist
immer auf Enttäuschungen gefaßt.
«Natürlich kann ich.» Als ich
noch Cop war, mußte ich unsere normalen Verabredungen manchmal verschieben.
Seit ich selbständig bin, passiert das nicht mehr. Nie. Wenn man zehn ist, muß
jemand da sein, auf den man sich verlassen kann. «Ich wollte nur wissen, ob du
daran gedacht hast.»
«Mittags, no ?» sagte sie
und ließ wieder ihr Herkunftsland durchklingen. «Ich warte auf dich.»
«Ich werde hupen.»
«Was machen wir?»
«Überraschung», sagte ich und
verschwieg, daß ich es noch nicht wußte. «Jeans und Turnschuhe.»
«Klasse. Ich möchte auch mit
dir reden.»
«Du
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