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Carlotta steigt ein

Carlotta steigt ein

Titel: Carlotta steigt ein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Barnes
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handelte sich um eine Postkarte aus
Irland, eine Landschaft mit grünen Hügeln und zufriedenen Schafen. Sie war
unterschrieben mit «Gene».
    Das verblüffte mich, und so
stahl ich sie. Ich gehe davon aus, daß Postkarten sowieso ständig verlegt
werden.
     
     
     

27
     
    Das mußte man Margaret Devens
lassen. Kaum aus dem Krankenhaus heraus, und schon war sie die perfekte
Gastgeberin. Margarets Wohnzimmer schien weniger unverwüstlich zu sein als die
Dame selbst. Die Reste nicht zusammenpassender Möbelstücke füllten den Raum.
Roz und Lemon hatten eine alte Couch vom oberen Stockwerk heruntergeholt, um
die von den Schlägern ruinierte zu ersetzen. Das wackelige Bein eines Sessels
war vorübergehend geschient worden. Der Teppich war in der Reinigung. Von den
antiken Schränken fehlten die Türen, sie wurden gerade von einem örtlichen
Tischler instand gesetzt. Eine unversehrte Vase stand haargenau in der Mitte des
Kaminsimses, völlig fehl am Platz. Dadurch fiel erst richtig auf, daß der
andere Nippes fehlte.
    Die «Gäste» trafen in Abständen
gruppenweise zu zweit und dritt ein. Sie hatten die teigigen Gesichter von
Leuten, die nachts arbeiten und tags schlafen.
    Sie rutschten auf dem häßlichen
Sofa hin und her, wippten mit den Klappstühlen, die eigens für diesen Anlaß
herbeigeschafft worden waren, die alten Männer von Green & White, der
harte Kern der gälischen Bruderschaft. Margaret Devens hatte die Geladenen
sorgfältig ausgewählt, alles Freunde ihres Bruders, zehn an der Zahl.
    Wenn Eugene und Flaherty
dagewesen wären, hätten wir die Geschworenen-Jury beisammen gehabt.
    Sean Boyle, nüchterner als
sonst, war einer der ersten Ankömmlinge. Joe Fergus war mürrisch und in streitbarer
Stimmung. O’Keefe, O’Callahan und Corcoran folgten als nächste, allesamt Iren.
Alle über fünfzig, manche schon an die sechzig, manche noch älter, mit
glasigen, glitzernden Augen, die noch die Zeiten gesehen hatten, als Iren in
Boston unwillkommen waren und «Micks» und «Harps» hießen oder mit noch weniger
schmeichelhaften Namen bedacht wurden.
    Die alten Männer ließen den
Blick starr über die kahlen Wände und schirmlosen Lampen des Wohnzimmers
schweifen, die lange Verlängerungsschnur entlang, die sich zu einem
Diaprojektor schlängelte. Sie sprachen bedachtsam und leise mit gespanntem
Unterton. Es kam mir vor wie eine Totenwache ohne Leiche.
    Ich hatte angeboten, den Anfang
zu machen, aber Margaret hatte strikt und höflich abgelehnt. Sie wollte das schon
selbst bewerkstelligen, vielen Dank. Mit ihrer netten, liebenswürdigen Fassade
war es vorbei, vielleicht ein für allemal. Kein geblümtes Kleid, kein
Federhütchen. Sie trug schlichtes Schwarz, bis oben zu einem steifen Kragen hin
zugeknöpft. Ihr Gesicht war bleich, ihr rechtes Auge von verblassenden blauen
Flecken umgeben. Ein Knie steckte in einem Verband. Kein Begrüßungslächeln, als
die Männer pflichtschuldigst durch die Eingangshalle hereinmarschiert kamen.
Sie schien gar nicht wahrzunehmen, wie sich ihr Wohnzimmer füllte.
    Sie stellte sich an der Tür zum
Wohnzimmer unter dem Bogendurchgang auf; ihre Anwesenheit brachte die Männer
zum Schweigen. Sie hielt ein Blatt Papier in der Hand. Es knisterte, als sie es
zum Lesen hochhob.
    «Kein zweites Troja», verkündete
sie.
    Die Männer auf der Couch warfen
sich beredte Blicke von der Art «verrücktes altes Huhn, nichts wie weg» zu.
    Ihre Stimme war zittrig, nicht
aus Schwäche, sondern aus mühsam niedergehaltenem Gefühl. Sie klang unendlich
alt, unendlich müde. «Dieses Gedicht, meine Herren, wurde im Zimmer meines
Bruders gefunden. William Butler Yeats hat es geschrieben, über eine Frau, die
er mit hoffnungsloser Leidenschaftlichkeit liebte. Sie war eine Heldin im
irischen Freiheitskampf. Maud war ihr Name, Maud Gönne. Und aus irgendeinem
Grund hielt mein Bruder, der Gedichte nicht gerade schätzte, es für angebracht,
es sich abzuschreiben. Wenn er sich die Zeit nahm, es abzuschreiben, können Sie
wohl auch so liebenswürdig sein, es sich anzuhören. Vielleicht kennen es manche
von Ihnen schon. Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich zu leise spreche — oder zu
langsam.»
    Sie sagte nicht, daß ihr Mund
und Kinn noch immer von den Schlägen schmerzten. Das hatte sie auch gar nicht
nötig.
    Die alten Männer schickten sich
ins Unvermeidliche, als seien sie dazu verurteilt, von einer unbequemen
Kirchenbank aus einer langen Predigt zu lauschen.
    «Kein zweites Troja»,
wiederholte

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