Caroline und der Bandit
die
Älteste war und sich bestimmt am besten daran erinnern würde, wo Lily und Emma
den Zug verlassen hatten.
Aber Gott
schien nicht einmal zu diesem kleinen Zugeständnis bereit.
»Vergeßt
nicht, was ich euch gesagt habe«, mahnte sie ihre Schwestern nach einer
letzten, tränenreichen Umarmung, hockte sich vor Lily hin und nahm deren
kleinen Hände. »Und wenn ihr
euch einsam fühlt, dann singt das Lied, das Großmutter uns beigebracht hat.
Das wird uns dann zusammenfügen.« Sie küßte Lily zärtlich auf die Wange.
»Irgendwann finde ich euch wieder«, fügte sie hinzu. »Ganz bestimmt. Ich
verspreche es euch.« Dann richtete sie sich auf und wandte sich an Emma. »Sei
stark«, bat sie mit erstickter Stimme. »Und vergiß nichts von allem, was wir
besprochen haben – bitte, Emma!«
Emma
nickte. Tränen rannen über ihre von der eisigen Kälte geröteten Wangen. Ihre
Lippen formten die Worte > Auf Wiedersehen < , aber kein Ton kam aus ihrer
Kehle, und Caroline verstand.
Der
Zugbegleiter scheuchte die verbliebenen Kinder in den Waggon zurück, und
Caroline folgte ihrer Adoptivmutter mit hängenden Schultern zur Treppe. Sie
wagte es nicht, sich noch einmal umzusehen.
»Wenn du
mich fragst«, sagte die fremde Frau, »fordern Miss Ethel und Miss Phoebe das
Schicksal heraus, indem sie ein fremdes Kind bei sich aufnehmen, nur weil sie
Gesellschaft haben wollen ...«
Caroline
achtete nicht auf das Gerede der Frau; ihre Trauer war zu tief, ihr Schmerz zu
frisch. Erst als der Zug donnernd aus dem Bahnhof fuhr, drehte sie sich noch
einmal um – das eiserne Ungeheuer entführte die beiden Menschen, die sie am
meisten liebte auf dieser Welt.
Die Frau
packte sie unsanft an der Schulter und zog sie mit. »Ich habe nicht den ganzen
Tag Zeit für diese albernen Geschichten«, fuhr sie gereizt fort. »Ich finde
wirklich, Miss Phoebe hätte auch selbst kommen können, anstatt mich zu
schicken.«
Der Schnee
war tief, matschig und mit Pferdemist durchsetzt, und es fiel Caroline schwer,
den großen Schritten der Frau zu folgen. Außerdem hatte sie keine Eile,
vorwärtszukommen; in Gedanken war sie bei dem Zug, der nach Westen ratterte,
und am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen.
»Wie heißt
du überhaupt?« wollte die Frau wissen, als sie an einem großen
Kolonialwarenladen vorbeikamen und auf ein Hotel zugingen.
»Caroline
Chalmers«, antwortete Caroline würdevoll, strich ihren schäbigen alten Mantel
glatt und dann ihr langes, schwarzes Haar zurück, das naß vom Schnee war. »Und
Sie?«
»Mrs.
Artemus T. Phillips«, erwiderte die Frau und machte sich zum ersten Mal die
Mühe, Caroline genauer anzusehen. »Du liebe Güte, du bist aber dünn!« sagte sie
kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich überstehst du keine Woche mehr.«
Caroline
war fest entschlossen, so lange auszuhalten, bis sie Emma und Lily gefunden
hatte. Sie hob trotzig ihr Kinn. »O doch, das werde ich, darauf können Sie sich
verlassen!«
»Sei bloß
nicht so schnippisch«, warnte Mrs. Artemus T. Phillips und zerrte Caroline an
ihrem vor Kälte erstarrten Ohr um eine Häuserecke. »Ich muß schon sagen, ihr
armen Leute begreift einfach nicht, wann ihr dankbar zu sein habt ...«
Caroline
zappelte und versuchte, sich Mrs. Phillips Griff zu entziehen, aber die Frau
war stark und hielt sie unbarmherzig fest.
Vor einem
Haus, das von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war, hielt sie an und stieß
das Tor auf. »Hier sind wir schon«, sagte sie in einem Ton, der ihre
Erleichterung verriet.
Caroline
hob den Kopf, um das Haus anzusehen. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit
grünen Fensterläden und einem Kamin, aus dem Rauch kräuselte – ein Heim, wie
sie es sich immer erträumt hatte.
Durch die
ovale Glasscheibe in der Tür glaubte Caroline ein Gesicht zu sehen, und einen
Moment später wurde die Tür von einer Frau geöffnet, die braune Haare hatte und
ein blaßrosa Musselinkleid trug. Um die Schultern hatte sie ein Umhängetuch
gelegt, und an ihrem Halsauschnitt steckte eine hübsche Kameebrosche.
Die Frau
lächelte Caroline an, und das Mädchen erwiderte das Lächeln, trotz allem.
»Das ist
also unser Mädchen«, sagte die Frau, die weder schön noch häßlich war, weder
alt noch jung. »Komm herein, Kind.«
Caroline
wurde in ein Haus geführt, in dem es angenehm nach Zimt und Lavendel roch.
Eine andere
Frau, die das Spiegelbild der ersten hätte sein können – abgesehen davon, daß
ihr Kleid blau war – kam die Treppe herunter. »Ist das das
Weitere Kostenlose Bücher