Carpe Somnium (German Edition)
vergeblich dahinterzukommen, wie die Terroristen den falschen Aufseher hatten einschleusen können. Das war um einiges eindrucksvoller als die üblichen Anti-Unison-Störfeuer, die meist nicht über kurzzeitige ID -Hacks und Accountlöschungen hinausgingen. Und woher wussten die von der Prozedur?
Na, wie auch immer. In einem derart riesigen Unternehmen gab es Dutzende mögliche Gründe dafür, weshalb eine geheime Information plötzlich nicht mehr geheim war. Er würde es schon noch herausfinden.
Aber erst einmal erwartete ihn sein Vater.
3
Schau nicht zurück
»Moment mal«, sagte Mistletoe.
Bis jetzt hatte sie Ambrose von seinem Tag berichten lassen, ohne ihn zu unterbrechen, war dem Widerhall seiner Stimme im Innern des Aufzugs gefolgt. Sie hatten in dem ein paar Blocks von ihrem eigenen entfernten Barackenhaufen längst das oberste Stockwerk erreicht, doch der Junge schien es gar nicht zu bemerken. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich einen Reim auf die Ereignisse der vergangenen Stunden zu machen. Mistletoe wusste, wie er sich fühlte. Eben noch hatte sie auf dem Balkon vor sich hin geträumt; im nächsten Augenblick hatte sie Jiri sterben sehen.
»Diese Frau in deinem Ohr oder am Telefon oder was für ’nem Ding auch immer, die hat wirklich
Carpe somnium
gesagt? Bist du sicher?«
Ambrose fuhr mit dem Finger über den Stängel unter der orangeroten Graffitiblüte. »Ich bin sicher. Und dieser Aufseher hat’s auch gesagt. Es bedeutet –«
»
Nutze den Traum.
Auf Latein. Ich bin kein verbloggter Idiot. Dita und Jiri sagen es ständig.«
Sie schlug auf den einsamen Knopf an der Wand. Unter quietschendem Protest glitt die Tür auf. Ambrose stand da wie versteinert und machte große Augen. »Hier unten ist alles so alt«, sagte er.
Sie versetzte ihm einen Stoß.
Heftiger, als sie eigentlich wollte.
Ambrose donnerte mit dem Rücken gegen die Wand und glotzte Mistletoe mit offenem Mund an, als sie sich zwischen ihn und den Ausgang schob. Fast musste sie darüber lachen, wie entsetzt er aussah – dieser Junge war es nicht gewohnt, dass man ihn herumschubste. Sie baute sich dicht vor ihm auf.
»Jiri war mein Freund, kapiert? Und er ist gestorben, als er dich gerettet hat.« Sie war sich zwar nicht ganz sicher, ob das überhaupt stimmte, aber immerhin klang es dramatisch. »Vergiss das nicht, wenn du das nächste Mal meinst, mir erzählen zu müssen, mein Viertel wär alt oder stinkig oder voll oder laut, auch wenn’s all das ist. Bloß weil du von oben kommst und …« Sie beugte sich noch ein Stück vor und schnupperte an ihm. Er wich zurück, so weit er konnte. »Du riechst wie ’n Obstsalat.«
Er schluckte. »Das ist Duftwasser mit synthetischem Zitrusöl. Aus Brüssel.«
»Aus
was
?«
»Brüssel, ist ’ne Stadt in –«
»Ja, ja, schon gut. Halt die Klappe. Komm jetzt.« Sie manövrierte Nelson aus dem Aufzug und wartete darauf, dass Ambrose sich auf den Sozius schwang. Er ließ sich so langsam und vorsichtig nieder, als wäre Nelson irgendein funktionsgestörter Transporter, der sie bei nächster Gelegenheit abwerfen könnte.
»Er beißt nicht, ehrlich.«
Sie folgten einem schmalen, holprigen Weg, der auf der obersten Ebene des Barackenhaufens unmittelbar an einer mattgrauen, von zahlreichen Fensteröffnungen durchbrochenen Wand entlangführte. Das Fensterglas war längst verschwunden und durch löchrige Ziegel, Holzbretter oder einfach durch nichts ersetzt worden. Die abblätternde cremefarbene Unterseite des Sphärenschilds verlief direkt über ihren Köpfen. Hunderte kleiner Hütten wie jene, die sie sich mit Jiri geteilt hatte, waren unter ihnen dicht gedrängt übereinandergestapelt und fielen steil ab bis hinunter zur Straße. Wie träge Flüsse schnitten Zugangswege den Stapel planlos in ungleiche Schichten.
»Wo sind wir hier?«, fragte Ambrose.
Verwirrt blickte Mistletoe sich um, dann erst fiel ihr ein, dass er ihr Viertel ja gerade zum ersten Mal sah. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, in seinen glänzenden schwarzen Schuhen zu stecken und die alltäglich vertrauten Orte ihres Lebens nicht zu kennen. Als Tante Dita sie nach oben in die Erholungszone für Nominierte Jugendliche geschmuggelt hatte, hatte sie sich ohne den Sphärenschild über ihrem Kopf seltsam losgelöst gefühlt, so als könnte sie einfach von der Erdoberfläche abheben und immer weiter in die Höhe steigen. Vielleicht fühlte Ambrose das Gegenteil: Vielleicht fühlte er sich in der
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