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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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viel Platz gibt’s denn zwischen den Plastahl-Stützen? Da können doch sicher noch Tausende Leute wohnen. Hat sich irgendwer mal an einer Renovierung versucht?«
    »Nein«, sagte Mistletoe. »Niemand geht da rein.« Sie schauderte.
    »Wieso nicht?«
    »Das soll heißen, niemand, der da reingeht, kommt auch wieder raus.«
    »Lächerlich.«
    »Du würdest da auch nicht reingehen, wenn du Bescheid wüsstest. Du würdest dich nicht mal in die Nähe der Fenster wagen.«
    Der Weg fiel plötzlich steil ab und führte sie auf eine hölzerne Hängebrücke, die aus mit geschwärzten Drähten zusammengebundenen Brettern bestand. Nelson passte sich der holprigen Piste an.
    »Wenn ich worüber Bescheid wüsste?«, fragte Ambrose und seine Worte klangen zunehmend schrill, als die Hütten unterhalb der Brücke dem gähnenden Abgrund wichen.
    »Vergiss es.« Sie wollte nicht über die Geißel reden. Weder jetzt noch irgendwann. »Gleich sind wir bei Tante Dita. Sie weiß, was zu tun ist.«
    »Wer ist sie?«
    »Jiris Schwester.«
    »Nein, ich meine, was ist ihr Beruf? Ihr Beitrag für die Gesellschaft?«
    »Beitrag für die Gesellschaft?«
    Ambrose war der seltsamste Junge, dem sie je begegnet war. Sie fragte sich, wie lange er wohl in den Straßen Little Saigons am Leben geblieben wäre, wenn sie ihn nicht gefunden hätte. Wahrscheinlich ungefähr zwei Minuten. Was hatte Jiri nur mit ihm vorgehabt?
    Sie jagte den Scooter über die Brücke, bremste hart und bog schlitternd auf den Weg ein, der um die Spitze des nächsten Barackenhaufens verlief. Die Auftriebe protestierten mit einem moskitoartig durchdringenden Sirren. Ambrose presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie versetzte ihm einen Ellbogenstoß in den Magen und er lockerte seinen Griff.
    Tante Dita wohnte ein paar Schichten tiefer. Mistletoe verlangsamte auf Schritttempo und bog von dem nahezu unbelebten oberen Pfad ab auf einen gewundenen breiten Weg, auf dem ein dichtes Gedränge von Menschen und Hunden herrschte. Sie reihten sich hinter einem quälend dahinschleichenden Zigeunerkarren ein, der schier überquoll vor grellbunten Schals und Säcken mit dem Aufdruck
Kaffee
, in denen sich, so viel wusste Mistletoe, vermutlich entweder eine Handvoll Schusswaffen oder Little Saigons Modedroge des Monats befand. Von hinten schloss ein klappriges, mit irgendwelchem wiederverwertbaren Uraltschrott – Stromkabel und kaputte Bildschirme – beladenes Vehikel zu ihnen auf, sodass sie eingekeilt waren. Mistletoe fühlte ihren Geduldsfaden gefährlich dünn werden, während sie im Schneckentempo dahinkrochen. Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Lippe, um nicht laut loszuschreien.
    »Wie viele Leute wohnen da?«, fragte Ambrose und zeigte auf eine kümmerliche gelbe Hütte, eingezwängt zwischen zwei schäbigen braunen Schuppen.
Ein Zitronensandwich
, schoss es Mistletoe durch den Kopf.
    »Wahrscheinlich eine ganze Familie«, sagte sie. Wie aufs Stichwort erschien eine Frau in der Tür und wiegte ein winziges Baby im Arm. Keine Sekunde später sauste ein kleiner Junge aus der Hütte, schlüpfte durch die Beine der Frau und verschwand in der Menge. Träge und gleichgültig blickte die Frau sich kurz um, sog schnüffelnd die Luft ein, verzog das Gesicht und ging wieder hinein.
    »Wie soll denn da drin alles Platz finden?«, fragte Ambrose.
    »Was alles?«
    »Na, deren … Zeug.«
    »Du bist wirklich der verbloggteste Schlaumeier, den ich je getroffen habe«, erwiderte Mistletoe. »Wie wär’s, wenn du dir deine Frage von diesem Process-Flow-Dingsbums beantworten lässt, mit dem du vorhin so mächtig angegeben hast?«
    »So funktioniert das nicht. Ein Process Flow ist ein
Prozess
– das Ganze beruht auf umfassenden Forschungen und Analysen.«
    »Klingt eher nach ’nem Ratespiel.«
    »Es ist kein
Ratespiel
und auch keine Zauberei. Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Aber ich kann mit dem, was ich über die Gewohnheiten der Leute weiß, den Unison-Programmierern dabei helfen, einem User eine ganze Reihe befriedigender Ergebnisse zu verschaffen, basierend auf seinem Kaufverhalten und seinem Freundeskreis.« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich helfe dabei, das Leben der Leute besser zu machen, ohne dass sie je darum bitten müssen.«
    »Wie auch immer«, seufzte sie. »Sie
haben
gar nichts, Ambrose.«
    »Wer?«
    »Diese Frau, ihre Kinder. Jeder hier unten. Du machst dir keine Sorgen darum, ob dir in deinem Haus irgendwann der Platz ausgeht, wenn du kein Geld

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