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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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nahezu menschenleer. Niemand beachtete ihn. Im Innern der Luftschleuse fuhr er auf einer rostigen Plattform hinunter und an einem Plexiglas-Schaukasten vorbei. Er spähte hinein. Dampf waberte um mehrere bläulich weiße Statuen. Er sah genauer hin, und ihm wurde klar, dass es Menschen waren, erstarrt mit vor Entsetzen aufgerissenen Mündern. Er schauderte. War das irgendeine Art von Kunstausstellung?
    Dann erinnerte er sich an etwas, das sein Vater ihm vor langer Zeit erzählt hatte: Die Luftschleusen waren mit einem Schockkühlmittel ausgestattet. Bewohner der Oberstadt mit hartkodierten ID s konnten kommen und gehen, wie es ihnen gefiel, ohne den Gefriermechanismus auszulösen. Doch wenn nicht autorisierte Subsphären-Bewohner nach oben zu kommen versuchten, saßen sie in der luftdichten Kammer in der Falle, während zuerst ihre inneren Organe, dann ihr Blut, dann ihre Haut gefroren.
    Und wenn sie besonders viel Glück hätten, hatte sein Vater amüsiert hinzugefügt, würden sie sich in dem Schaukasten als Ausstellungsstücke wiederfinden, als Warnung für ihre Mitbürger. Wenn nicht, würden sie einfach entsorgt.
    Es war eine wirksame Abschreckung.
    Eine der eisigen Gestalten war ein Junge im Teenageralter, der sich in seinen letzten Momenten die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Seine weit aufgerissenen Augen blickten starr zwischen gespreizten Fingern hervor. Direkt ihm gegenüber hatte jemand
Kuckuck
in das Plexiglas geritzt.
    Was war das hier nur für ein Ort?
    Mit einem dumpfen Poltern setzte die Plattform auf dem Boden auf. Die Schleusentür glitt zur Seite. Dampf entwich.
    Zum ersten Mal in seinem Leben trat Ambrose Truax hinaus auf die subsphärischen Straßen.

5

Die Geißel
    »Dein Viertel ist völlig anders, als ich’s mir vorgestellt hab«, sagte Ambrose in dem angespannten Flüsterton, in dem er bereits die ganze Zeit redete. »Es ist …« Er trommelte auf sein Knie, während er nach den richtigen Worten suchte. »Ich meine, sobald ich die Luftschleuse verlassen hatte, gab’s keine Möglichkeit mehr, irgendwas herauszufinden. Ich nehme an, ich bin zu sehr daran gewöhnt, immer und überall Zugriff auf Informationen zu haben, und hier unten ist es so, als wäre man in eine Zeitmaschine geraten und hundert Jahre zurückgereist. Ich möchte dich nicht beleidigen; es ist nur … ach, keine Ahnung. Jedenfalls bin ich einfach losgelaufen, und dann hat mich dein … dein Freund Jiri gepackt, und keine Sekunde später waren die Cops da und dann du.«
    Mistletoe hielt die Augen geschlossen. Sie antwortete nicht. Schon seit seiner Beschreibung des Traums –
ihres
Traums – war seine Geschichte zum leise plätschernden Hintergrund für ihre rasenden Gedanken geworden. Falls er die Wahrheit sagte und diese Frau in der Übertragung ebenso – bedeutete das, dass sie selbst nicht real war? Bedeutete das, dass sie und Ambrose einen gemeinsamen Schöpfer hatten? Sie ließ kurz seine Hand los und rieb sich die Schläfen, dort wo im Traum die Drähte gewesen waren. Glatte, vollkommen ebene Haut. Normale menschliche Züge.
    »Es ist nicht wahr«, sagte sie ruhig.
    »Entschuldige, ich wollte nicht sagen, dass es hier unten schlecht ist. Ich sage bloß, dass es … anders ist.«
    »Das mit der Nachricht, meine ich.«
    Ambrose schwieg. Sogar in der Dunkelheit konnte sie spüren, wie er mit seiner Erklärung zögerte, wie sie ihm nicht über die Lippen wollte.
Er ist sich nicht sicher
, dachte sie.
    »Vielleicht ist er dir ja nur deswegen besonders real vorgekommen, weil’s dein allerletzter Traum überhaupt war oder so ähnlich.«
    »Du glaubst also ernsthaft, ich hätte mich völlig grundlos aus meinem alten Leben davongemacht?«, erwiderte Ambrose schroff.
    »Schhh!«, machte sie. »Ich weiß es nicht. Und du scheinbar genauso wenig.«
    Er senkte seine Stimme zu einem heiseren Wispern. »Du hast nicht den leisesten Schimmer, was ich da heute aufgegeben habe.«
    Während der Stille, die folgte, öffnete sie zweimal ihren Mund, um ihm von ihrem Traum zu erzählen – dem Traum, den sie mit ihm teilte –, doch etwas hielt sie zurück. Wenn Ambrose davon wüsste, würden sie darüber reden müssen, und dazu war sie noch nicht bereit. Stattdessen sagte sie: »Diese Sache, die sie mit dir angestellt haben –«
    »Die Hypothalamus-Modifikation?«
    »Wie auch immer. Die macht dich, ich meine … du wirst nicht mehr schlafen? Nie wieder? Bloß damit du mehr arbeiten kannst?«
    Ambrose holte tief Luft, atmete

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