Carpe Somnium (German Edition)
Blick zuckte zu Nelson, dann zu Mistletoe, dann zur ESCU -Seminardatenbank – »Uhrmacher.«
»Toller Name.«
»Danke. Ist neu. Wie deiner.«
»Ich muss trotzdem da rauf, und zwar
jetzt
.«
Er machte sich an einer weiteren Haarsträhne zu schaffen und beäugte sie neugierig. »Na schön, Anna Mistletoe.«
»Nur Mistletoe.«
»Zwei Bedingungen. Erstens: Du erklärst mir, wieso du’s dermaßen eilig hast, da raufzukommen. Zweitens: Egal, was du da oben zu tun hast, du nimmst mich mit.«
»Erstens: Kann ich nicht. Zweitens: Kann ich auch nicht.«
»Dachte mir schon, dass du das sagen würdest. Dann geht’s also um ’nen Typen?«
Darauf war sie nicht gefasst gewesen. »Was? Es ist nicht –
ma buh
, Sliv, das hat nichts zu tun mit …« Sie seufzte. »Es hat nichts mit ’nem
Typen
zu tun.« Sie dachte einen Moment nach, kaute an ihrer Unterlippe. »Weißt du, wo du herkommst?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Die Zahnradhand lag bequem im Winkel seines Ellbogens. Sein ärmelloses schwarzes Shirt entblößte die Tätowierung einer schmelzenden Uhr auf seiner rechten Schulter.
»Von da, wo du auch herkommst«, sagte er. »Little Saigon.«
»Schon klar. Und du weißt, wer deine Eltern sind?«
»So ungefähr.«
Sie starrte ihn an. Er senkte den Blick.
»Okay«, murmelte er. »Du suchst deine Familie.«
Ich suche mich selbst
, dachte sie – sagte jedoch: »Genügt dir das?«
»Japp«, antwortete er nach einer Weile. »Das genügt mir.«
***
Der Eingang zur Luftschleuse am Rand von Rio II war mit zerbeulten Dosen, schmierigen Decken und abgetragenen Klamotten übersät. Kein Wunder, dass dieses Viertel ein Mückenproblem hatte. Mistletoe legte eine Hand auf Nelsons Lenker und lauschte den vertrauten subsphärischen Klängen, horchte auf jedes Fluchen, jedes Lachen, jedes Motorengeheul, denn womöglich hörte sie all das gerade zum letzten Mal. Sie wusste nicht, was ihr am meisten Angst machte: das Schockkühlmittel oder die Aussicht, diese Straßen nie wiederzusehen. Sie dachte an Ambrose, der in derselben Lage war, der sein Oberstadtleben gegen ein subsphärisches eingetauscht hatte.
»Der Scooter bleibt unten«, sagte Sliv.
»Schon kapiert.«
»Passt nicht rein«, erklärte er.
»Wie
gesagt
, schon kapiert.«
Sie nahm die Hand vom Lenker und dachte an all die Nachmittage, an denen sie sich mit Nelson durch die Falltür in ihrem Balkon gestürzt hatte, den Barackenhaufen hinabgejagt und durch die Straßen gerauscht war. An dem Tag, als Jiri ihn mit nach Hause gebracht hatte, hatte er geglänzt, trotz des abblätternden Lacks und des trüben Chroms. Sie hatte das Gefühl, ihren besten Freund im Stich zu lassen.
»Wir kümmern uns um das Ding«, sagte Sliv.
»Er heißt
Nelson
«, erinnerte sie ihn. »Und komm nicht auf die Idee, ihn wegen der Teile auseinanderzunehmen.«
»Uhrmacher-Ehrenwort.«
»Warte! Weißt du was? In Little Saigon rennt so ein Kid durch die Straßen – Shampoo. Frag ein bisschen rum, du findest ihn. Schenk ihm den Scooter.«
»Shampoo?«
»Sag ihm, er ist von Mistletoe. Oder gib ihn ihm einfach. Macht keinen Unterschied.«
Sliv musterte sie aufmerksam, dann nickte er.
Sie beobachteten eine Gruppe Oberstädter in grünen Jacken, Techniker der ESC -Gemeindeverwaltung, die auf den Eingang zuschlenderten. Die Kerle tranken aus und warfen ihre leeren Dosen auf den Boden. Mistletoe kniff die Augen zusammen.
»Die denken echt, das ist ’n riesiger Mülleimer hier unten.«
»Ganz ruhig«, flüsterte Sliv, die Hand auf ihrer Schulter.
Einer der Männer schaute in ihre Richtung, beäugte sie einen Moment argwöhnisch, dann trat er zu seinen Kollegen ins Innere der Luftschleuse. Die Tür senkte sich hinter ihm. Durch das Plexiglas konnte Mistletoe den Aufzug hinaufgleiten sehen, bis die Glas- in eine dichte Plastahl-Röhre überging, die sich an den gleich daneben aufragenden Barackenhaufen schmiegte. Mit dem Blick folgte sie seinem verborgenen Aufstieg zwischen den Hütten, reckte den Hals, um den Sphärenschild zu sehen. Darüber öffnete sich die Schleuse in die Oberstadt von ESC .
»Also, wie komm ich ohne ID mit dem Aufzug da rauf?«, fragte sie. Wenn sie die unsichtbaren Stolperdrähte der Falle auslöste, würde das Schockkühlmittel in einem nahen Wachhaus die Alarmglocken klingeln lassen; wenige Minuten später würde es hier von Cops und Technikern nur so wimmeln. Sie hatte es schon Dutzende Male von der Straße aus mit angesehen: Luftschleuse
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