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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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hatten. Dann schlich sie den Gang entlang und vorbei an dem Massagestuhl, den Jiri nie jemanden hatte kaufen lassen, weil sie ihn so sehr mochte. An der Tür ließ sie ein letztes Mal den Blick durch den Laden schweifen, dann öffnete sie sie einen Spaltbreit, um hinaus auf die Straße zu spähen. Keine Spur von den Cops. Durchaus möglich, dass sie in einem Versteck hockten und sie beobachteten, aber mit diesem Risiko würde sie in Zukunft wohl einfach leben müssen. Sie trat nach draußen und zog die Tür hinter sich zu.
    Zurück in der schummrigen Nische unter der kleinen Veranda, wo sie Nelson abgestellt hatte, ließ Mistletoe ihren Finger über alle Seiten des Kästchens gleiten und tastete nach jeder noch so winzigen Unebenheit in dem Metallgehäuse. Nichts. Es blieb nur noch eins zu tun. Sie ballte die Faust, worauf der Disruptor aus ihrem Ärmel schnellte und sich um ihre Hand legte. Mit dem Daumen löste sie das Sicherheitsschloss. Ein heftiges Beben jagte durch ihren Arm, ihr Nacken fühlte sich taub an. Mit einem Achselzucken schüttelte sie die seltsame Empfindung ab und setzte den Daumen auf die unterste Stufe des Schiebereglers – das niedrigste Energieniveau, kaum mehr als ein Funke –, und das Beben verebbte zu einem fernen Zittern. Sie kniff ein Auge zu, visierte das Kästchen an und riss ihren Ellbogen zurück.
    In der Nische unter der Veranda wurde es gleißend hell wie an einem Oberstadt-Morgen. Das Kästchen machte einen Satz in die Luft, krachte gegen die Decke und explodierte förmlich. Papierfetzen stoben in alle Richtungen und segelten zu Boden wie die Blätter in der Gasse vor Tante Ditas Haus. Hektisch fing Mistletoe sie aus der Luft. Die wenigen Seiten, die der Impuls nicht versengt hatte, waren dicht in Jiris krakeliger Handschrift beschrieben. Sie rettete die noch lesbaren und robbte auf dem Bauch bis an den straßennahen Rand der Veranda, wo etwas mehr Licht in die Nische sickerte. Oben auf der ersten unverbrannten Seite, die sie in der Hand hatte, stand:
    2230. Letzte Vorkehrungen getroffen. Aktion kann starten.
    2300. Wir sind nur zu viert bei dieser Rettung - J, P, D, D. Oberstadt in einer Stunde. Ankunft Klinik um 0200. Befreiung Objekte aus Labor um 0230. Keine Schießerei, falls Überraschungseffekt klappt. Falls nicht, sterben wir vielleicht. Kein Vorbereiten mehr. Bloß Handeln. Carpe somnium.
    Mistletoe dachte:
J = Jiri. D = Dita.
Und die Rettung war offenbar ihre eigene. Das bedeutete, dass diese Aufzeichnungen fünfzehn Jahre alt waren, genau wie sie. Aber wer waren die andern, P und das zweite D?
    Sie drehte die Seite um. Jiris Schrift wirkte jetzt sogar noch krakeliger.
    0530. Statusbericht:
    P getötet. Gezielter Schuss auf das Nervensystem.
    Weibliches Objekt befreit. Zu männlichem Objekt Infos faul. In anderer Klinik. Anderem Labor. Keine Chance, das rauszufinden.
    Mistletoe dachte an den Traum, den sie mit Ambrose teilte. Die zweite Hälfte gehörte offenbar ihr allein: wie Jiri sie im Laufen keuchend an seine Brust presste, wild um sich schoss, wie die Drähte sich aus ihrem Kopf herausschlängelten, ihr über die Schultern fielen.
    Weibliches Objekt befreit.
    Dann waren sie also tatsächlich einfach hereingestürmt und hatten sie aus einer sterilen UniCorp-Scannerröhre gezogen. Ihre Hände zitterten. Mehrere Seiten zerfielen zu schwarzen Ascheflocken. Sorgfältig untersuchte sie den Rest: ausführliche Verkaufslisten, Inventarbelege, vergilbte Quittungen. Tabellen mit west-englischen Wörtern in Tante Ditas behutsamer, sauberer Handschrift.
Katze. Vogel. Hund. Fisch.
Neben den Wörtern je eine schlichte Strichzeichnung des Tiers. Ditas altes Vokabelheft.
    Zu männlichem Objekt Infos faul.
    Sie dachte an Ambrose, gefangen im Innern des Drahtstamms, die blutigen Hände verkabelt mit Unison. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn dort zurückzulassen. Sie wünschte, er wäre bei ihr. Mit dem Stiefel zertrat sie die verkohlten Schnipsel zu Staub und überlegte, ob sie ins Labor der beiden Brüder zurückkehren sollte. Sie zerrte Nelson unter der Veranda hervor und wollte schon ihre Schutzbrille anlegen, als sie etwas sah: eine rote Prä-Unison-Armbanduhr, die anscheinend geradewegs aus dem Versteck herausgeschleudert worden war. Sie hob sie auf. Noch warm. Das Armband war verdreht und angesengt. Auf der quadratischen Oberseite nichts als drei schwarze Buchstaben: SCU .
    Sie drehte sie um. Wie zeigte dieses Ding die Zeit an? Sollte es überhaupt die Zeit

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