Carpe Somnium (German Edition)
anzeigen? Am Rand befanden sich fünf winzige silberne Knöpfe. Der Reihe nach drückte Mistletoe darauf. Nichts geschah. Die Uhr war ihr einziger echter Anhaltspunkt, und sie hatte sie kaputt gemacht, ehe sie ihr Geheimnis preisgeben konnte. Sie klopfte sie gegen die Verkleidung, die das fachmännisch umgebaute Getriebe ihres Scooters schützte.
»Was meinst du dazu, Nelson?«
Sie fuhr mit dem Finger über die drei kleinen Zahnräder an der Halskette unter ihrem Shirt. Wenn Sliv einen Oberstadt-Scooter reparieren konnte, dann konnte er sicher auch ein so simples Ding wie eine Uhr wieder hinkriegen.
»Ja,
dieser
Kerl.« Sie versetzte Nelson einen Tritt. »Schon klar. Halt die Klappe.«
Eine halbe Stunde später jagte Mistletoe an der Seite eines Barackenhaufens hinab mitten ins Herz von Rio II . Nelson rappelte unter ihr, beschwerte sich über das irrsinnige Tempo. Sie kurvte sich bis an die Spitze einer ganzen Karawane von Scootern, die in der völlig verstopften Straße um jeden Zentimeter Platz kämpften. Auf den Gläsern ihrer Schutzbrille sammelten sich rot-schwarze Spritzer, die sie mit ihrem Ärmel verschmierte. Rio II hatte ein Mückenproblem.
Sie raste durch eine Gasse, in der es nach Fischinnereien roch. Als sie daraus hervorschoss, hockte das alte Saturnkriegs-Veteranen-Hospital vor ihr wie eine gigantische Spinne. Die langen Korridore ragten wie Beine aus dem zerfallenden kuppelförmigen Mittelbau. Die Menschenmassen zerstreuten sich – sogar Leute, die nicht an Geister glaubten, machten lieber einen großen Bogen um das verlassene Krankenhaus. Laut Sliv war es der perfekte Unterschlupf.
Nach schneller Fahrt an einem der Spinnenbeine entlang kam sie zu der Stelle, wo er sie mit der Kette überrascht hatte: eine verwitterte Zugangsluke im Boden, halb aus den Angeln gebrochen. In dem dreieckigen Loch verloren Zementstufen sich in der Dunkelheit.
Sie stellte Nelsons Motor ab. Die ungewohnte Stille – das Stimmengewirr war hier nicht mehr als ein fernes Murmeln, die Scootergeräusche bloß noch ein leises Wimmern – erinnerte sie an die Straße mit den KI -Schrotttransportern. Sie schwang sich vom Scooter und schob Nelson behutsam vor sich her die Treppe hinab, beleuchtete den Weg mit seinem Scheinwerfer. Sie spürte das beruhigende Gewicht des Tasers in ihrem Ärmel.
Der Tunnel war leer. Und noch dazu ziemlich sauber, denn hier war keine Spur von dem Dreck und dem Schutt, über den man in der Subsphäre ESC s sonst an jeder Ecke stolperte. Nichts als glatter, grauer Zement, der sich bis ins Unendliche erstreckte. Sie lehnte Nelson gegen die Wand und wartete. Ihre Anwesenheit würde nicht lange unentdeckt bleiben.
Ein Geräusch in der Finsternis vor ihr.
Tap-tap. Tap-tap-tap.
Sie hielt den Atem an. Horchte.
Da war es wieder, näher jetzt.
Tap-tap-tap-tap.
Fast erwartete sie, einen blinden Mann aus der Dunkelheit auftauchen und vorüberschlurfen zu sehen, während sein Stock den Boden vor seinen Füßen abtastete. Stattdessen erschien am Rand des Lichtkegels von Nelsons Scheinwerfer ein metallisches Insekt, etwa so groß wie ein kleiner Hund. Seine Beine bestanden aus Titankolben, die an den Kniegelenken vor und zurück glitten. Sein Kopf war ein Kameraobjektiv, das über zwei Drähte mit einer Art Alkali-Mangan-Batterie auf seinem Rücken verbunden war. Das Objektiv musterte Mistletoe von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Drei silbrige Zahnräder, die an der Batterie angebracht waren, drehten sich simultan zu den Bewegungen der Kamera.
Mistletoe winkte.
»Hey, Sliv«, sagte sie. Ihre Stimme hallte im Tunnel wider. Das Insekt schien einen Augenblick lang ihr Gesicht anzustarren, dann huschte es rückwärts zurück in die Dunkelheit.
Als sie wieder allein war, ballte Mistletoe die Faust und die Disruptorspitze schob sich aus ihrem Ärmel. Dann tauchte abermals das Insekt auf, begleitet von einer runden Plastikscheibe auf Rädern, die gegen die Wand rumste, die Richtung änderte, gegen die andere Wand donnerte und schließlich vor ihren Füßen stehen blieb. Ein antiker Stereolautsprecher, der mit Schnüren auf der Scheibe befestigt war, erwachte knisternd zum Leben. An seiner Seite drehten sich drei silbrige Zahnräder.
»Hab nicht erwartet, dass du’s bist, Anna«, sagte der Lautsprecher. Sie erkannte Slivs Stimme hinter den Störgeräuschen.
»Mistletoe.«
»Was?«
»Mein Name.«
»Stimmt, hab ich vergessen. Mächtig schicke Armkanone, die du da hast. Shoppen gewesen?«
»So
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