Carre, John le
öffnete ein alter Weißrusse die
Tür. Er trug eine schief zugeknöpfte Strickjacke, lehnte auf einem Spazierstock
und sah sie von oben herab an.
Alle
fort, sagte er und deutete mit dem Stock die kopfsteingepflasterte Straße
entlang. Ausgezogen. Weg. Verdrängt von größeren Organisationen, fügte er hinzu
und lachte. Zu wenig Leute, zu viele Gruppen, und sie zankten sich wie Kinder.
Kein Wunder, daß der Zar besiegt worden ist! Der alte Weißrusse hatte ein
Gebiss, das nicht paßte, und das spärliche Haar war über den ganzen Schädel
gezogen, um die Glatze zu verbergen. Aber der General? fragte sie. Wo der
General sei? Lebte er noch, oder war er -?
Der
alte Russe feixte und fragte, ob es geschäftlich sei.
Privat,
sagte die Ostrakowa geistesgegenwärtig, eingedenk des Rufs, den der General als
Schwerenöter genossen hatte, und sie brachte sogar ein verschämtes Lächeln
zustande. Der alte Russe lachte, daß seine Zähne klapperten. Er lachte nochmals
und sagte: »Oh, der General!« Dann verschwand er und kam mit einer Londoner
Adresse zurück, in Lila auf eine Karte gedruckt, die er ihr gab. Der General
wird sich nie ändern, sagte er; noch im Himmel wird er hinter den Engeln her
sein und versuchen, sie zu vernaschen, keine Frage. Und in dieser Nacht saß die
Ostrakowa, während in der ganzen Nachbarschaft alles schlief, am Schreibtisch
ihres toten Mannes und schrieb an den General mit dem Freimut, den wir
gemeinhin Fremden vorbehalten, und nicht in Russisch, sondern in Französisch,
um so größere Distanz zu sich selbst zu wahren. Sie erzählte ihm von ihrer
Liebe zu Glikman und schöpfte Trost aus dem Wissen, daß der General die Frauen
nicht weniger liebte, als Glikman dies getan hatte. Sie gab unumwunden zu, daß
sie als Spionin nach Frankreich gekommen war, und sie erklärte, wie sie die
beiden nichtssagenden Berichte zusammengeschustert hatte, die der schmutzige
Preis für ihre Freiheit gewesen waren. Sie habe es à contre coeur getan,
sagte sie, Phantasie und Phantasterei, sagte sie, ein Nichts. Aber die Berichte
existierten, ebenso wie ihre schriftliche Verpflichtung, und sie zogen ihrer
Freiheit enge Grenzen. Dann sprach sie ihm von ihrer Seele und von den Gebeten
zu Gott in all den russischen Kirchen. Seit der rothaarige Fremde sie
angesprochen habe, sei ihre Existenz unwirklich geworden; sie habe das Gefühl,
man verweigere ihr eine natürliche Erklärung ihres Lebens, und wenn es eine
schmerzliche Erklärung wäre. Sie hielt mit nichts vor ihm zurück, denn ihre
Schuldgefühle, so sie welche empfand, hatten nichts mit ihren Bemühungen,
Alexandra in den Westen zu bringen, zu tun, sondern vielmehr mit ihrem Entschluß,
in Paris zu bleiben und ihren Mann bis zu seinem Tod zu pflegen, wonach, sagte
sie, die Sowjets sie ohnehin nicht mehr hätten zurückkommen lassen, da sie ja
ebenfalls abtrünnig geworden war.
»Aber,
General«, schrieb sie, »müßte ich heute nacht vor meinen Schöpfer persönlich
treten und ihm sagen, was in den Tiefen meines Herzens verborgen ist, ich würde
ihm sagen, was ich nun Ihnen sage. Ich habe meine Alexandra unter Schmerzen
geboren. Tag und Nacht kämpfte sie gegen mich, und ich kämpfte zurück. Schon im
Mutterleib war sie das Kind ihres Vaters. Mir blieb keine Zeit, sie lieb zu
gewinnen; ich kannte sie nur als den kleinen jüdischen Streiter, den ihr Vater
mir gemacht hat. Aber, General, eines weiß ich mit Sicherheit: Das Mädchen auf
dem Foto ist weder Glikmans Tochter noch die meine. Man will mir ein Kuckucksei
ins Nest legen, und wenn ich alte Frau mich auch nur allzugern täuschen ließe,
ich durchschaue den Betrug, und mein Haß auf die Betrüger ist stärker als alles
andere.«
Als
sie den Brief beendet hatte, steckte sie ihn sofort in den Umschlag, damit sie
ihn nicht mehr lesen und anderen Sinnes werden könne. Dann klebte sie
absichtlich zu viele Briefmarken darauf, als opfere sie eine Kerze für einen
geliebten Menschen.
Während
der nächsten zwei Wochen nach Absendung des Schreibens ereignete sich nichts,
und sie war über dieses Schweigen merkwürdig erleichtert, auf eine Art, wie
dies nur Frauen möglich ist. Dem Sturm war die Ruhe gefolgt, sie hatte das Wenige
getan, was sie tun konnte - hatte ihre Schwäche und ihren Verrat gestanden und
ihre einzige große Sünde -, der Rest war in Gottes und des Generals Hand. Ein
Streik der französischen Post erschütterte sie nicht. Sie sah darin eher ein
weiteres Hindernis, das die Mächte, die ihr
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