Carre, John le
nochmals, und sie starrte ihn an, versuchte, sich an alle Tricks zu
erinnern, vor denen man sie gewarnt hatte, aber es waren zu viele, und ihr war
alle Gerissenheit abhanden gekommen. Sie besaß nicht mehr Glikmans Gabe -
falls sie sie jemals besessen hatte-, »ihre« Lügen zu entziffern und »ihnen«
immer um ein paar Züge voraus zu sein. Sie wußte nur, daß sie, um sich zu
retten und um wieder mit ihrem geliebten Ostrakow vereint zu sein, eine große
Sünde begangen hatte, die größte, die eine Mutter begehen kann. Der Fremde
hatte angefangen, ihr zu drohen, aber die Drohung schien ausnahmsweise
belanglos. Bei Verweigerung der Zusammenarbeit - sagte er gerade - würde eine
Kopie der von ihr unterschriebenen Verpflichtungserklärung gegenüber den
Sowjetbehörden ihren Weg zur französischen Polizei finden. Kopien ihrer zwei
wertlosen Berichte (verfaßt, wie er sehr wohl wußte, einzig zu dem Zweck, die
Behörden zu beschwichtigen) würden unter den noch vorhandenen Pariser
Emigranten - deren Häuflein weiß Gott heutzutage kaum noch zählte! - in Umlauf
gebracht werden. Wieso eigentlich sollte sie sich einem Druck beugen
müssen, um ein Geschenk von so unschätzbarem Wert anzunehmen - da doch aufgrund
irgendeines unerklärlichen Gnadenakts dieser Mann, dieses System ihr die
Chance boten, sich und ihr Kind freizukaufen? Sie wußte, daß ihre täglichen und
nächtlichen Gebete um Vergebung erhört worden waren, die Tausende von Kerzen,
die Tausende von Tränen. Sie ließ es ihn ein drittes Mal sagen. Sie ließ ihn
das Notizbuch von seinem Gesicht wegnehmen und sah, daß sich sein weichlicher
Mund zu einem halben Lächeln verzogen hatte und er sie idiotischerweise um
Verzeihung zu bitten schien, noch während er diese aberwitzige gottgesandte
Frage wiederholte:
»Angenommen,
es wurde beschlossen, die Sowjetunion von diesem zersetzenden und asozialen
Element zu befreien, was hielten Sie davon, wenn Ihre Tochter Alexandra Ihnen
hierher nach Frankreich folgen würde?«
In
den Wochen nach dieser Begegnung und bei all den Schritten, die sich daraus
ergaben - verstohlene Besuche in der sowjetischen Botschaft, Ausfüllen von
Formularen, Unterzeichnen von Eidesstattlichen Erklärungen, Einholen eines certificat
d'héber-gement, mühevolles Durchwandern immer neuer französischer
Ministerien -, verfolgte die Ostrakowa ihre eigenen Unternehmungen, als handle
es sich um jemand anderen. Sie betete oft, doch ging sie dabei wie zu einer
Verschwörung ans Werk, verteilte die Gebete auf mehrere russisch-orthodoxe
Kirchen, so daß man sie in keiner von ihnen bei einem ungebührlichen Pietätsaufwand
beobachten konnte. Einige dieser Kirchen waren weiter nichts als kleine
Privathäuser im 15. und 16. Arrondissement, mit Patriarchenkreuzen aus
Sperrholz und mit alten, regengetränkten russischen Anschlägen an den Türen,
auf denen billige Unterkunft gegen Klavierunterricht gesucht wurde. Sie ging in
die Kirche der Auslandsrussen, in die Kirche zur Erscheinung der Heiligen
Jungfrau, in die Kirche des Heiligen Seraphim von Sarow. Sie ging überall hin.
Sie klingelte, bis jemand kam, ein Küster oder eine schmalgesichtige Frau in
Schwarz; sie gab ihnen Geld und durfte sich dafür in der feuchten Kälte vor
kerzenbeleuchtete Ikonen knien, den schweren Weihrauch einatmen, bis sie halb
trunken war. Sie tat Gelübde an den Allmächtigen, sie dankte Ihm, bat Ihn um
Rat, hätte Ihn um ein Haar gefragt, was Er wohl getan hätte, wenn ein Fremder
unter ähnlichen Umständen an Ihn herangetreten wäre, erinnerte Ihn daran, daß
so oder so Druck auf sie ausgeübt werde und sie verloren sei, wenn sie nicht
gehorche. Zugleich aber meldete sich ihr unverwüstlicher Hausverstand, und sie
fragte sich immer wieder, warum gerade sie, die Frau des Verräters
Ostrakow, die Geliebte des Dissidenten Glikman, die Mutter einer - so
wenigstens gab man ihr zu verstehen - turbulenten und asozialen Tochter, so
untypischer Nachsicht teilhaftig werden sollte.
In
der sowjetischen Botschaft wurde sie, als sie ihren ersten formellen Antrag
stellte, so rücksichtsvoll behandelt, wie sie es sich nie hätte träumen lassen,
mit einer Milde, die weder einer Überläuferin und abtrünnigen Spionin, noch
der Mutter eines ungebärdigen Teufelsbratens zukam. Sie wurde nicht rauh in
ein Wartezimmer verwiesen, sondern in ein Büro gebeten, wo ein junger und
zuvorkommender Beamter sie mit westlicher Höflichkeit bedachte und ihr sogar,
wenn Feder oder Mut sie im Stich
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