Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
Vom Netzwerk:
anderer
Gelegenheit laut aufgelacht hätte über all das Leben, den Humor und die
Ungeniertheit, die er ausstrahlte.
    Doch
nicht heute abend.
    Heute
abend trug er einen Ernst zur Schau, der, wie sie sofort spürte, nicht seiner
Natur entsprach. Heute abend machte er ganz auf eiligen Geschäftsmann, der
gerade seinem Flugzeug entstiegen war - sie hatte auch den Eindruck, er sei nur
zu einer Stippvisite in der Stadt: so adrett, so leichtes Gepäck, heute abend
wollte er nur zur Sache kommen.
    »Haben
Sie meinen Brief sicher erhalten, Madame?« Er sprach russisch, schnell, mit
estnischem Akzent.
    »Ich
dachte, es sei der Brief des Generals gewesen«, erwiderte sie, wobei sie
unwillkürlich eine gewisse Strenge in ihren Tonfall legte.
    »Ich
habe den Brief für ihn überbracht«, sagte er ernst. Er grub in einer
Innentasche herum, und sie hatte das entsetzliche Gefühl, er werde, wie der
große Russe, ein glattes schwarzes Notizbuch zücken. Statt dessen brachte er
jedoch ein Foto zum Vorschein, und ein Blick darauf genügte: die bleichen
verschwitzten Züge, der Ausdruck der Verachtung für alles Weibliche, nicht nur
für sie, die Mischung aus Gelüst und Feigheit.
    »Ja«,
sagte sie. »Das ist der Fremde.«
    Als
sie sah, wie er aufatmete, wußte sie sogleich, daß er zu den Leuten gehörte,
von denen Glikman und seine Freunde als »einer von uns« sprachen - nicht
unbedingt ein Jude, aber ein ganzer Kerl. Von diesem Augenblick an nannte sie
ihn im Stillen den »Magier«. In ihrer Vorstellung waren seine Taschen voll
verblüffender Tricks, und in seinen fröhlichen Augen tanzten Zauberlichter.
     
    Die
halbe Nacht redete die Ostrakowa mit dem Magier, so hingegeben, wie sie es nur
zu Glikmans Zeiten getan hatte. Zuerst erzählte sie alles wieder von vorne,
erlebte es nochmals in allen Einzelheiten und entdeckte zu ihrer Überraschung,
wie lückenhaft ihr Brief war, den der Magier auswendig zu kennen schien. Sie
erklärte ihm ihre Gefühle und ihre Tränen; ihren schrecklichen inneren Aufruhr;
sie beschrieb die Tölpelhaftigkeit ihres schwitzenden Peinigers. Er war so
unfähig - sagte sie immer wieder verwundert - als wäre es sein erstes Mal
gewesen, sagte sie - keinen Schliff, kein Selbstvertrauen. Komisch, sich den
Teufel als Stümper vorzustellen! Sie erzählte von dem Schinkenomlett mit frites und dem Bier, und er lachte; von ihrem Eindruck, daß dieser Mann
gefährlich schüchtern und verklemmt sei - kein Frauenfreund. Meist stimmte der
kleine Magier ihr herzlich zu, als seien er und der Rothaarige alte Bekannte.
Sie vertraute dem Magier völlig, wie der General es ihr nahegelegt hatte; sie
war des ewigen Argwohns müde. Sie redete, dachte sie später, so rückhaltlos wie
damals mit Ostrakow in ihrer Heimatstadt, als die beiden ein junges Liebespaar
gewesen waren, während der Nächte, da sie glaubten, es wäre jeweils die letzte
in ihrem Leben, aneinandergeklammert, unter dem näherrückenden Kanonendonner
der Belagerer; oder mit Glikman, während sie darauf warteten, daß »sie« an die
Tür hämmern und ihn wieder ins Gefängnis zurückbringen würden. Sie sprach zu
seinem alerten und verstehenden Blick, zu dem Lachen in ihm, zu der Toleranz,
die, wie sie sofort spürte, der bessere Teil seiner unorthodoxen und
vielleicht antisozialen Natur war. Und je länger sie sprach, um so mehr sagte
ihr der weibliche Instinkt, daß sie in ihm eine Leidenschaft schürte - keine
Liebe in diesem Fall, sondern einen scharfen und präzisen Haß, der auch der
kleinsten Frage, die er stellte, Durchschlagskraft und Treffsicherheit
verlieh. Was und wen er genau haßte, konnte sie nicht sagen, aber sie
fürchtete für jeden, sei es nun der rothaarige Fremde oder sonstwer, der das
Feuer dieses kleinen Magiers auf sich gezogen hatte. Glikmans Leidenschaft, so
erinnerte sie sich, war eine allgemeine, eine diffuse Leidenschaft gewesen, die
sich fast zufällig auf eine Reihe von Symptomen konzentrierte, kleine oder große.
Die des Magiers aber war einstrahlig, gezielt auf einen Punkt gerichtet, den
sie nicht sehen konnte.
    Als
der Magier sie schließlich verließ - mein Gott, dachte sie, es ist ja beinah
Zeit, zur Arbeit zu gehen! - hatte die Ostrakowa ihm jedenfalls alles gesagt,
was sie zu sagen hatte, und der Magier hatte seinerseits in ihr Gefühle
geweckt, die seit Jahren, bis zu dieser Nacht, ausschließlich der Vergangenheit
angehört hatten. Während sie benommen die Teller und Flaschen wegräumte,
brachte sie es, trotz der

Weitere Kostenlose Bücher