Carre, John le
angenommen, sie werde bald das Original kennenlernen. Sie hatte die
Fotos nicht länger als eine Stunde in Händen gehabt! Sie war damit straks von
der Botschaft zum Ministerium geeilt, und als sie von dort wegging, hatten
die Fotos bereits ihren bürokratischen Dienstweg angetreten. Aber sie hatte
die Bilder genau betrachtet! Mein Gott, und wie genau, jedes einzelne, obwohl
sie wirklich alle gleich waren! In der Metro, in den Vorzimmern des
Ministeriums, sogar unterwegs auf der Straße hatte sie auf dieses leblose
Konterfei ihres Kindes gestarrt und mit aller Macht versucht, in den ausdruckslosen
grauen Schatten irgendeinen Hinweis auf den geliebten Mann zu finden.
Vergeblich. Bis jetzt hatte sie sich, wenn sie überhaupt daran zu denken wagte,
vorgestellt, die Heranwachsende trüge Glikmans Züge, so klar, wie das
neugeborene Kind sie getragen hatte. Es war doch ganz und gar unmöglich, daß
ein so kraftvoller Mann wie Glikman in Alexandra nicht für immer weiterleben
sollte. Doch die Ostrakowa sah nichts von Glikman auf diesem Foto. Er
hatte sein Judentum wie eine Fahne getragen. Es war ein Teil seiner einsamen
Revolution gewesen. Er war nicht orthodox, nicht einmal gläubig, und er
mißbilligte ihre heimliche Frömmigkeit fast so sehr, wie er die
Sowjetbürokratie verabscheute - und doch hatte er sie um ihre Brennschere gebeten
und sich Schläfenlöckchen fabriziert, wie die Chassidim sie tragen, nur um dem
Antisemitismus der Behörden eine Zielscheibe zu bieten, wie er sich
ausdrückte. Doch in dem Gesicht auf dem Foto erkannte sie nicht einen Tropfen
seines Blutes wieder, nicht den geringsten Funken seines Feuers - obwohl
dieses Feuer, nach Aussage des Fremden, gewaltig in dem Mädchen loderte.
»Wenn
sie eine Leiche fotografiert hätten, um zu diesem Bild zu kommen«, dachte die
Ostrakowa laut in ihrer Wohnung, »dann würde mich das nicht wundern.« Und mit
dieser unverblümten Feststellung gab sie ihrem wachsenden inneren Zweifel zum
erstenmal äußeren Ausdruck.
Wenn
sie im Lagerhaus schuftete, wenn sie an langen Abenden allein in ihrer winzigen
Wohnung saß, zermarterte die Ostrakowa sich das Hirn darüber, wem sie sich
anvertrauen könnte; einem Menschen, der weder verteufeln noch verhimmeln würde;
der um die Ecken des Weges sehen könnte, den sie entlangging; und vor allem
einem, der nicht sprechen und ihr damit- wie man ihr versichert hatte - alle
Chancen verderben würde, Alexandra wiederzusehen. Plötzlich, eines Nachts, gab
ihr entweder Gott oder ihr fieberhaft arbeitendes Gehirn die Antwort ein: der
General ! dachte sie, setzte sich im Bett auf und knipste das Licht
an.Ostrakow selbst hatte ihr von ihm erzählt! Diese Emigrantengruppen sind
eine Katastrophe, hatte er immer gesagt, und man muß sie meiden, wie die Pest.
Der einzige, dem man trauen kann, ist Wladimir, der General; er ist ein alter
Teufel und ein Weiberheld, aber er ist ein ganzer Mann, er hat Beziehungen, und
er kann den Mund halten.
Aber
Ostrakow hatte dies vor etlichen zwanzig Jahren gesagt, und selbst alte
Generale sind nicht unsterblich. Und außerdem -Wladimir, wer? Sie kannte nicht
einmal seinen Familiennamen. Sogar den Vornamen Wladimir - so Ostrakow - hatte
er sich seinerzeit für den Militärdienst zugelegt; denn sein echter Name war
estnisch und untauglich zur Verwendung in der Roten Armee. Trotzdem machte sie
sich am nächsten Tag zu dem Buchladen an der Sankt Alexander Newsky-Kathedrale
auf, wo man oft Informationen über die dahinschwindende russische Kolonie
erhalten konnte, und stellte ihre ersten Nachforschungen an. Sie erfuhr einen
Namen und sogar eine Telefonnummer, aber keine Adresse. Das Telefon war
abgeschaltet. Sie ging zur Post und redete so lange auf die Beamten ein, bis
sie ein Telefonbuch von 1956 hervorzauberten, in dem die »Bewegung für die
baltische Freiheit« eingetragen war, dahinter eine Adresse in Montparnasse.
Die Ostrakowa war nicht auf den Kopf gefallen. Sie schlug im Straßenverzeichnis
nach und fand unter der Adresse vier weitere Organisationen: die Riga-Gruppe,
die Vereinigung der Opfer des Sowjet-Imperialismus, das Achtundvierziger-Komitee
für ein freies Lettland und das Reval-Komitee für Freiheit. Obwohl sie sich
lebhaft an Ostrakows bissige Bemerkungen über derartige Vereine erinnerte -
seinen Beitrag hatte er aber trotz allem immer brav bezahlt -, ging sie zur
angegebenen Adresse und klingelte. Das Haus war wie eine ihrer kleinen Kirchen:
bizarr und scheinbar unbewohnt. Schließlich
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