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Carre, John le

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Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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weichen Innenseite des Handgelenks
ergriff und es durch den Ärmel hindurch mit aller Gewalt zusammenkniff, so, wie
sie es damals Hunderte von Malen getan hatte, als derartige Verhöre für sie an
der Tagesordnung waren. - Wann haben Sie zuletzt von Ihrem Mann, dem Verräter
Ostrakow, gehört? Nennen Sie alle Personen, mit denen Sie in den letzten drei
Monaten zusammengekommen sind! Zu ihrer bitteren Erfahrung hatte sie auch die übrigen
Lektionen des Verhörs gelernt. Ein Teil ihrer selbst spielte sie in diesem
Augenblick durch, und obgleich diese Lektionen, geschichtlich gesehen, bereits
der vorhergehenden Generation angehörten, schienen sie ihr so zutreffend, wie
gestern, und ebenso lebenswichtig: nie der Ruppigkeit mit Ruppigkeit begegnen;
sich nie provozieren lassen, nie auftrumpfen, nie witzig oder überlegen oder
geistreich sein; sich nie aus der Fassung bringen lassen aus Wut oder Verzweiflung
oder durch das Aufwallen einer jähen Hoffnung, die eine bestimmte Frage
erwecken könnte. Stumpfsinn mit Stumpfsinn erwidern und Routine mit Routine.
Und nur tief, tief innen die beiden Geheimnisse verwahren, die alle diese
Erniedrigungen erträglich machten: ihren Haß auf »sie« und die Hoffnung, eines
Tages, nach endlos vielen Tropfen Wasser auf den Stein, durch Verschleiß und
durch eine wunderbare Fehlschaltung des schwerfälligen Behördengetriebes, von
»ihnen« die Freiheit zu erhalten, die sie ihr verweigerten.
    Er
hatte ein Notizbuch gezogen. In Moskau wäre es die Akte Ostrakowa gewesen, aber
hier in einem Pariser Bistrot war es ein glattes, schwarzes, ledergebundenes
Notizbuch, über dessen Besitz sich in Moskau sogar ein Funktionär glücklich
gepriesen hätte.
    Akte
hin, Notizbuch her, die Vorrede war die gleiche: »Sie wurden als Maria
Andrejewna Rogowa am 8. Mai 1927 in Leningrad geboren«, wiederholte er. »Am 1.
September 1948 heirateten Sie, im Alter von 21 Jahren, den Verräter Ostrakow,
Igor, Infanteriehauptmann in der Roten Armee, Sohn einer estnischen Mutter.
1950 desertierte besagter Ostrakow, der damals in Ost-Berlin stationiert war,
mit Unterstützung reaktionärer estnischer Emigranten verräterisch in die
faschistische Bundesrepublik und ließ Sie in Moskau zurück. Er ging nach Paris,
nahm später die französische Staatsbürgerschaft an und unterhielt Kontakte zu
antisowjetischen Elementen. Zum Zeitpunkt seiner Fahnenflucht hatten Sie kein
Kind von diesem Mann. Auch waren Sie nicht schwanger. Richtig?«
    »Richtig«,
sagte sie.
    In
Moskau hätte sie gesagt: »Richtig, Genosse Hauptmann« oder: »Richtig, Genosse
Kommissar«, aber in einem lärmenden französischen Bistrot war eine derartige
Förmlichkeit unangebracht. Die Hautfalte an ihrem Handgelenk war taub
geworden. Sie ließ los, wartete, bis die Stelle wieder durchblutet war, und
kniff von neuem zu.
    »Als
Ostrakows Komplizin wurden Sie zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt, jedoch
vorzeitig aufgrund der Amnestie nach Stalins Tod im März 1953 freigelassen.
Richtig?«
    »Richtig.«
    »Nach
Ihrer Rückkehr nach Moskau haben Sie trotz der Aussichtslosigkeit eines
solchen Unterfangens einen Auslandspaß beantragt, um zu ihrem Mann nach
Frankreich zu reisen. Richtig?«
    »Er
litt an Krebs« sagte sie. »Hätte ich keinen Antrag gestellt, so wäre ich meiner
Pflicht als Ehefrau nicht nachgekommen.«
    Der
Kellner servierte die Omelettes mit frites und zwei Elsässer Biere, und
die Ostrakowa bat, einen thé citron zu bringen: Sie war durstig, machte
sich aber nichts aus Bier. Als sie sich an den garçon wandte, versuchte
sie, mit Lächeln und Blicken eine Brücke zu ihm zu schlagen, prallte aber an
seiner steinernen Gleichgültigkeit ab; sie bemerkte, daß sie außer den drei
Prostituierten die einzige Frau im Lokal war. Der Fremde hielt das Notizbuch
schräg vor sich, wie ein Missale, schaufelte eine Gabelvoll ein, dann noch
eine, während die Ostrakowa den Griff auf das Handgelenk verstärkte. Alexandras
Name pulsierte in ihrem Kopf wie eine offene Wunde, und sie erwog tausenderlei ernsthafte Schwierigkeiten , die des Beistands einer Mutter bedürften.
    Der
Fremde fuhr essend mit ihrer Lebensgeschichte fort. Aß er zum Vergnügen, oder
aß er nur, um nicht wieder aufzufallen? Sie kam zu dem Schluß, daß er ein
Gewohnheitsesser sei.
    »Zwischenzeitlich«,
verkündete er kauend.
    »Zwischenzeitlich«,
flüsterte sie unwillkürlich.
    »Zwischenzeitlich«,
gab er mit vollem Mund von sich, »gingen Sie, ungeachtet Ihrer angeblichen
Sorge

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