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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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seit ich vor mehr als zwanzig Jahren nach
Frankreich kam«, fügte sie, wieder Mut fassend, hinzu. »Auf indirektem Weg habe
ich erfahren, daß er über mein antisowjetisches Verhalten erzürnt war. Er
wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Im Grunde wollte er schon damals, als
ich ihn verließ, wieder einschwenken.«
    »Hat
er nie wegen Ihres gemeinsamen Kindes geschrieben?«
    »Er
hat weder geschrieben, noch Botschaften übermitteln lassen. Wie schon gesagt.«
    »Wo
ist Ihre Tochter jetzt?«
    »Weiß
ich nicht.«
    »Haben
Sie keine Nachricht von ihr bekommen?«
    »Natürlich
nicht. Ich habe nur gehört, sie sei in ein staatliches Waisenhaus gekommen und
habe einen anderen Namen erhalten. Vermutlich weiß sie nichts von meiner
Existenz.«
    Der
Fremde aß wieder mit einer Hand, während er in der anderen das Notizbuch
hielt. Er schaufelte ein, mampfte ein bißchen und spülte dann das Essen mit dem
Bier hinunter, ohne sein überlegenes Lächeln zu verlieren.
    »Und
jetzt ist auch der kriminelle Glikman tot«, gab der Fremde schließlich sein
kleines Geheimnis preis. Wobei er weiteraß. Plötzlich wünschte sich die
Ostrakowa, die zwanzig Jahre möchten zweihundert sein. Sie wünschte sich,
Glikmans Gesicht hätte nie auf sie herabgesehen, sie hätte ihn nie geliebt, nie
für ihn gesorgt, nie Tag um Tag für ihn gekocht oder sich mit ihm betrunken,
in seinem Einzimmer-Exil, wo sie von der Mildtätigkeit ihrer Freunde lebten,
ohne das Recht auf Arbeit, ohne das Recht auf irgendetwas außer Musik hören und
einander lieben, sich betrinken, in den Wäldern umherschweifen und sich von den
Nachbarn die kalte Schulter zeigen lassen.
    »Wenn
sie mich das nächste Mal einsperren - oder dich -, dann werden sie uns das Kind
ohnehin wegnehmen. Alexandra ist für uns so und so verloren«, hatte Glikman
gesagt. »Aber du kannst dich retten.«
    »Ich
werde mich entschließen, wenn ich dort bin«, hatte sie geantwortet.
    »Entschließe
dich jetzt.«
    »Wenn
ich dort bin.«
    Der
Fremde schob den leeren Teller beiseite und nahm das elegante französische
Notizbuch wieder in beide Hände. Er blätterte um, als schlage er ein neues
Kapitel auf.
    »Was
nun Ihre kriminelle Tochter Alexandra betrifft«, verkündete er mit noch immer
vollem Mund.
    »Kriminell?« flüsterte sie.
    Zu
ihrem Erstaunen rezitierte der Fremde eine neue Liste von Verbrechen. Die Ostrakowa
glitt dabei endgültig aus der Gegenwart. Ihre Blicke lagen auf dem
Mosaikboden, und sie bemerkte die Langustinenschalen und die Brotkrümel. Doch
ihr Geist war wieder in dem Moskauer Gerichtssaal, wo ihr eigener Prozeß aufs
neue ablief. Wenn nicht der ihre, dann der von Glikman - nein, auch der nicht.
Wessen Prozeß also? Sie erinnerte sich an Prozesse, denen sie als unerwünschte
Zuschauer beigewohnt hatten. Prozesse von Freunden, wenn auch nur von
Zufallsfreunden: zum Beispiel Leuten, die das absolute Verfügungsrecht der
Behörden infrage gestellt hatten; oder irgendeinen nicht genehmigten Gott
verehrten; oder kriminell abstrakte Bilder malten; oder politisch gefährliche
Liebesgedichte schrieben. Die plaudernden Gäste im Bistrot wurden zur
grölenden claque der Sicherheitspolizei; das Knallen an den
Spielautomaten zum Zuknallen von Eisentüren. Am soundsovielten wegen Ausbruchs
aus dem staatlichen Waisenhaus an der Dingsstraße soundsoviele Monate
Besserungsverwahrung. Am soundsovielten wegen Beleidigung von Organen des
Staatssicherheitsdienstes soundsoviele Monate, verlängert wegen schlechter
Führung; gefolgt von soundsovielen Jahren interner Verbannung. Die Ostrakowa
spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte, und sie glaubte, ihr werde übel. Sie
legte die Hände um das Teeglas und sah die roten Kneifmale an den Gelenken. Der
Fremde fuhr in seiner Aufzählung fort, und sie hörte, daß man ihrer Tochter
zwei weitere Jahre verpaßt hatte, wegen Arbeitsverweigerung in der
Soundso-Fabrik. Gott helfe ihr, was war ihr eingefallen? Woher hatte sie das?
fragte die Ostrakowa sich ungläubig. Wie hatte Glikman es angestellt, dem Kind
in der kurzen Zeit, ehe es ihm weggenommen wurde, seinen Stempel aufzudrücken
und alle Bemühungen des Systems zunichte zu machen? Angst, Jubel, Verwunderung
wirbelten in ihrem Geist wild durcheinander, bis eine Bemerkung des Fremden
alles zum Stillstand brachte.
    »Ich
habe nicht gehört«, flüsterte sie nach einer Ewigkeit. »Ich bin ein bißchen
durcheinander. Würden Sie freundlicherweise wiederholen, was Sie eben gesagt
haben?«
    Er
sagte es

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