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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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Sie mir Ihre Tasche, und ab die Post!«
    Drinnen
ertönte Gelächter; dann schimpfte jemand - diese Alte hält den ganzen Betrieb
auf! Sie spürte die Hand des Fremden, der unbeholfen nach ihrem Arm griff, wie
ein linkischer Liebhaber, der nach den Knöpfen grapscht. Sie riß sich los. Sie
versuchte, dem Fahrer etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus: Sie öffnete
den Mund, schien jedoch das Sprechen verlernt zu haben. Nur mit Mühe konnte
sie ein Kopfschütteln zustande bringen. Der Fahrer rief ihr noch etwas zu,
dann winkte er achselzuckend. Die Schimpfkanonade verstärkte sich - alte
Vettel, mittags schon besoffen, wie eine Hure! Regungslos sah die Ostrakowa zu,
wie der Bus abfuhr und verschwand; sie wartete, bis ihre Sicht wieder klarer
wurde und ihr Herz zu galoppieren aufhörte. Jetzt brauche ich ein Glas
Wasser, dachte sie. Gegen die Starken kann ich mich selbst schützen. Gott
bewahre mich vor den Schwachen.
    Sie
folgte ihm schwer hinkend in ein Lokal. In einem Zwangsarbeitslager hatte sie
sich vor genau fünfundzwanzig Jahren bei einem Kohlenschlipf im Bergwerk das
Bein an drei Stellen gebrochen. Am heutigen vierten August - das Datum war ihr
nicht entfallen - war unter dem grausamen Schlag, den die Mitteilung des
Fremden ihr versetzt hatte, wieder das Gefühl des Verkrüppeltseins über sie
gekommen.
    Das
Lokal war das letzte in der Straße, wenn nicht in ganz Paris, wo es weder
Neonlicht noch Jukebox gab, dafür allerdings einige Spielautomaten, die von
früh bis spät rumsten und blitzten. Im übrigen herrschte das gewohnte
mittägliche Stimmengewirr; es ging um hohe Politik, Pferderennen oder was sonst
die Pariser beschäftigt; da war auch das übliche Trio von Prostituierten, die
leise miteinander sprachen, und ein stumpfsinniger junger Kellner in einem schmutzigen
Hemd, der die neuen Gäste sofort zu einem Ecktisch führte, den ein
schmuddeliges Campari-Aufstellschild als reserviert kennzeichnete. Es folgte
ein Augenblick lächerlicher Banalität. Der Fremde bestellte zweimal Kaffee,
doch der Kellner wandte ein, daß man zu Mittag nicht den besten Tisch des
Hauses reservieren lasse, nur um Kaffee zu trinken: Der patron muß ja
schließlich seine Miete bezahlen, Monsieur. Das Ganze in einem Patois, dem der
Fremde nicht zu folgen vermochte, so daß die Ostrakowa übersetzen mußte. Der
Fremde errötete und bestellte, ohne die Ostrakowa zu fragen, zweimal
Schinkenomelett mit frites, sowie zwei Bier. Dann strebte er nach
»Herren«, um sich aufzumöbeln - offenbar im Vertrauen darauf, daß sie ihm
inzwischen nicht ausrücken werde -, und als er zurückkam, war sein Gesicht
trocken und das rötliche Haar gekämmt, doch der Mief, der jetzt in dem geschlossenen
Raum von ihm ausging, erinnerte die Ostrakowa an Moskauer U-Bahnen, an Moskauer
Straßenbahnen und an Moskauer Verhörräume. Auf seinem kurzen Gang von der
Herrentoilette zum Tisch hatte er ihr, beredter als mit allem, was er ihr je
hätte sagen können, bestätigt, was sie bereits befürchtet hatte: Er war einer
von »ihnen«. Der verborgene Dünkel, die bewußte Unmenschlichkeit des Ausdrucks,
die gewichtige Art, wie er jetzt die Unterarme auf dem Tisch hochwinkelte und
mit gespielter Unschlüssigkeit nach einem Stück Brot im Körbchen griff, als
tauche er eine Feder ins Tintenfaß, das alles erweckte in der Ostrakowa die
schlimmsten Erinnerungen an ihr Leben als »gefallene« Frau unter dem Druck
einer übelwollenden Moskauer Bürokratie.
    »So«,
sagte er und nahm gleichzeitig ein Stück Brot. Er wählte ein knuspriges
Endstück. Mit seinen Pranken hätte er es im Nu zerquetschen können, doch statt
dessen zupfte er mit fetten Fingerspitzen damenhaft Flocken daraus, als sei
dies die offizielle Eßart. Während er knabberte, rutschten seine Brauen in die
Höhe, und seine Augen füllten sich mit Selbstmitleid, ich armer Mensch in
diesem fremden Land. »Weiß man hierorts, daß Sie in Rußland ein unmoralisches
Leben geführt haben?« fragte er schließlich. »Nun, vielleicht nehmen sie's in
einer Stadt voller Huren damit nicht so genau.«
    Die
Antwort lag ihr fix und fertig auf der Zunge: Mein Leben in Rußland war
nicht unmoralisch. Unmoralisch war nur Ihr System.
    Aber
sie sagte es nicht, sondern verharrte in Schweigen. Die Ostrakowa hatte sich
geschworen, ihr scharfes Temperament und ihre scharfe Zunge an die Kandare zu
nehmen, und sie half nun körperlich der Einhaltung dieses Gelübdes nach, indem
sie unter dem Tisch ein Stück Haut an der

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