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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krieg im Spiegel (Smiley Bd 4)
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er sie nicht geküßt hatte.
Es dauerte eine halbe Stunde, ehe er ein Taxi zur Blackfriars Road fand. Avery
beobachtete die vorbeifliegenden Straßenlampen. Er war noch recht jung und
gehörte zu jener, erst in unserer Zeit entstandenen Gesellschaftsschicht von
Engländern, die ein Bakkalaureat der Philosophischen Fakultät erworben haben
und diese Tatsache nun mit ihrer Herkunft aus kleinen Verhältnissen in Einklang
bringen müssen. Er war groß und wirkte mit seinen hinter einer Brille
verborgenen trägen Augen wie ein Bücherwurm. Dazu hatte er eine freundliche,
zurückhaltende Art, die ihn bei der älteren Generation beliebt machte. Die
Bewegung des Taxis war ihm so angenehm, wie einem Kind das Schaukeln. Der
Wagen fuhr über den St. George's Circus und an der Augenklinik vorbei in die
Blackfriars Road. Ehe sich Avery es versah, waren sie vor dem Haus, aber er bat
den Fahrer, ihn erst an der nächsten Ecke abzusetzen, denn Leclerc hatte ihn
ermahnt, vorsichtig zu sein.
    »Hier
irgendwo«, rief er nach vorne. »Ist schon recht.« Die Organisation war in einer
verbauten, altersgrauen, düsteren Villa untergebracht. Es war eines jener Häuser,
die einen Feuerlöscher auf dem Balkon haben und so aussehen, als warteten sie
schon seit einer Ewigkeit auf einen Käufer. Avery hatte sich oft gefragt, warum
das Ministerium eine Mauer um das Grundstück errichtet hatte. Vielleicht
sollte es wie ein Friedhof vor den neugierigen Blicken der Leute geschützt
werden - oder die Leute vor den Blicken der hier ruhenden Toten. Sicherlich
war es nicht zum Schutz des Gartens, denn in ihm gab es nichts als eine Grasfläche,
die so räudig war wie das Fell eines alten Straßenköters. Die dunkelgrün
gestrichene Vordertür wurde nie geöffnet. Tagsüber passierten gelegentlich in
der gleichen Farbe lackierte unauffällige Lieferwagen die Einfahrt, aber was
immer sie hier zu tun hatten, es wurde im Hinterhof erledigt. Soweit die
Nachbarn überhaupt davon sprachen, nannten sie es das Ministerialgebäude, und
das war eine ungenaue Bezeichnung, denn die Organisation war eigenständig und
nur dem Ministerium unterstellt. Es war unverkennbar vom langsamen Verfall
gezeichnet, wie jedes Haus auf der ganzen Welt, in dem sich eine staatliche
Dienststelle eingemietet hat. Für die Menschen, die in diesem Haus arbeiteten,
war sein Geheimnis wie das Mysterium der Mutterschaft, und sie empfanden die
Tatsache, daß es weiter stehen blieb, wie das Mysterium Englands. Es gab ihnen
Geborgenheit und Schutz, vermittelte ihnen das Gefühl von Sicherheit und die
süße, aber unzeitgemäße Illusion, daß es sie erhalte. Avery würde sich immer
daran erinnern, wie der Nebel zufrieden um die Stuckfassade strich, oder wie
die Sonne während des Sommers für kurze Zeit durch die Netzvorhänge in sein
Zimmer lugte, ohne daß sie Wärme verbreitete oder Geheimnisse enthüllte. Und er
würde sich immer an das Bild dieses Hauses erinnern, wie es jetzt mit
schwarzer Fassade in der Dämmerung eines Wintertages dastand, während sich die
Straßenlampen in den Regentropfen auf den schmutzigen Scheiben brachen.
    Aber an welches Bild er sich auch
erinnern würde - es wäre nie das Bild seines Arbeitsplatzes, sondern immer das
eines Ortes, an dem er gelebt hatte. Er folgte dem Fußweg zur Rückseite des
Gebäudes, wo er läutete und darauf wartete, daß Pine ihm öffnete. Das Fenster
in Leclercs Zimmer war erleuchtet. Er zeigte Pine seinen Ausweis.
Möglicherweise erinnerte das beide an den Krieg: für Avery ein nachempfundenes
Vergnügen, während sich Pine auf eigene Erfahrungen stützen konnte. »Schöner
Mond, Sir«, sagte Pine. »Ja.« Avery trat ins Haus. Pine folgte und schloß hinter
ihm ab.
    »Früher
hätten die Jungs einen solchen Mond verflucht.«
    »Das stimmt«, lachte Avery.
    »Haben Sie von dem Spiel in
Melbourne gehört? Bradley war wieder mal große Klasse.«
    »Du meine Güte«, sagte Avery
freundlich. Er konnte Cricket nicht ausstehen.
    An der
Eingangshalle schimmerte eine blaue Lampe wie das Nachtlicht in einem
Krankenhaus. Avery stieg die Treppe hinauf. Ihm war kalt und er fühlte sich
unbehaglich. Irgendwo läutete eine Glocke. Merkwürdig, daß Sarah das Telefon
nicht gehört hatte. Leclerc wartete schon auf ihn. Er sagte: »Wir brauchen
einen Mann.« Es klang, als stehe er unter Hypnose, wie ein Schlafwandler. Eine
Lampe warf ihr Licht auf die vor ihm liegende Akte. Er war schlank, glatt,
klein und sehr geschmeidig; eine penible Katze von Mann,

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