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Carre, John le

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Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krieg im Spiegel (Smiley Bd 4)
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durchsichtigen Intrigen hassen oder Widerwillen gegen
seine anmaßenden und selbstgefälligen Gesten empfinden, so wie ein Kind die
übertriebenen Affektiertheiten von Erwachsenen verabscheut. Und im nächsten
Augenblick konnte er das Bedürfnis empfinden, ihn voll
Verantwortungsbewußtsein und inniger Zuneigung zu beschützen. Abgesehen von all
diesen wechselnden Stimmungen war er Leclerc aber irgendwie dankbar, daß er
ihn aufgebaut hatte. All dies zusammen erzeugte zwischen ihnen jene Zuneigung,
die nur die Schwachen füreinander empfinden können: jeder war für den anderen
das Publikum, für das die Rolle gespielt wurde.
    »Es wäre
gut«, sagte Leclerc unvermittelt, »wenn Sie beim Unternehmen Mayfly mitmachen
würden.«
    »Würde ich
gerne tun.«
    »Nach
Ihrer Rückkehr.«
    Sie harten
die Adresse auf dem Stadtplan nachgesehen: »Roxburgh Gardens 34«. Es war
jenseits der Kennington High Street. Bald wurde die Straße schäbiger, die
Häuser standen dichter. Die Gaslaternen brannten gelb und flach wie
Papiermonde. »Im Krieg hatten wir für den Stab sogar ein Wohnhaus.«
    »Vielleicht bekommen wir wieder
eines«, meinte Avery.
    »Es ist zwanzig Jahre her, seit
ich zum letztenmal einen solchen Weg zu machen hatte.«
    »Sind Sie damals allein gegangen?«
fragte Avery und wünschte sofort, diese Frage nicht gestellt zu haben. Es war
so leicht, Leclerc zu verletzen. »Damals war es einfacher. Wir konnten sagen,
sie wären fürs Vaterland gefallen. Wir mußten ihnen keine Einzelheiten
erzählen; niemand erwartete das.« Also war es
>wir<, dachte Avery. Ein anderer Junge, eines dieser lachenden Gesichter
an der Wand. »Jeden Tag fiel damals einer der Piloten. Wir machten Aufklärung,
wissen Sie, auch Sondermissionen. Manchmal schäme ich mich: Ich kann mich nicht
einmal an ihre Namen erinnern. Einige von ihnen waren so jung.«
    In Averys
Vorstellung zog eine tragische Prozession von Gesichtern vorüber, die vom
Grauen gezeichnet waren: Mütter und Väter, Freundinnen und Frauen; und er
versuchte, sich Leclerc vorzustellen, wie er naiv und doch selbstsicher unter
ihnen stand. Wie ein Politiker am Schauplatz einer Katastrophe. Sie waren am Ende
einer Erhebung angelangt. Eine armselige Gegend. Die Straße führte hinunter zu
einer Reihe schmutziger, fensterloser Häuser. Darüber erhob sich eine einzeln
stehende Mietskaserne: Roxburgh Gardens.
    Die Kette
der Straßenlaternen beleuchtete die Ziegelwand und teilte sie in regelmäßige
Zellen. Es war ein großes Gebäude, auf seine Art sehr häßlich, der Beginn
einer neuen Welt, zu deren Füßen der schwarze Schutt der alten lag:
zerfallende, schmierige Häuser, zwischen denen sich traurige Gesichter wie Treibholz
in einem vergessenen Hafen durch den Regen bewegten. Leclercs kleine Fäuste
waren geballt; er stand ganz still.
    »Hier?«
sagte er. »Taylor hat hier gewohnt?«
    »Warum
sollte er nicht? Hier wird anscheinend aufgebaut, Altstadtsanierung.« Dann
verstand Avery. Leclerc schämte sich. Taylor hatte ihn schamlos betrogen. Das
war nicht die Gesellschaft, die von ihrer Organisation beschützt wurde, diese
Slums rings um den Turm von Babel: dafür war in Leclercs Ordnung der Dinge kein
Platz. Der Gedanke, daß ein Mitglied von Leclercs Stab sich tagtäglich aus dem
Geruch und Gestank einer solchen Gegend in das Heiligtum der Organisation
schleppte - hatte er kein Geld, keine Rente? Hatte er nicht ein bißchen auf
der hohen Kante wie wir alle, nur ein- oder zweihundert, um sich aus diesem
Elend herauszukaufen?
    »Es ist nicht ärger als
Blackfriars Road«, sagte Avery willkürlich; es sollte Leclerc trösten. »Jeder
weiß, daß wir früher in der Baker Street waren«, gab Leclerc zurück.
    Sie gingen
schnell zum Eingang der Mietskaserne, vorbei an Schaufenstern, die mit alten
Kleidern und rostigen Elektroöfen vollgestopft waren, mit all dem traurigen,
nutzlosen Kram, den nur die Armen kaufen. Es gab einen Wachszieher. Seine
Kerzen waren gelb und verstaubt wie Fragmente eines verfallenen Grabmals.
    »Welche
Nummer?« fragte Leclerc. »Vierunddreißig, sagten Sie.«
    Sie gingen
zwischen mächtigen, mit groben Mosaiken verzierten Säulen, wobei sie den mit
rosa Zahlen beschrifteten Hinweispfeilen aus Plastik folgten. Sie zwängten
sich zwischen Reihen alter Autowracks hindurch und kamen schließlich zu einem
Eingang, auf dessen Schwelle Milchkartons standen. Es gab keine Tür, nur eine
Treppe mit Gummibelag, die bei jedem Schritt quietschte. Es roch nach Essen

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