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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krieg im Spiegel (Smiley Bd 4)
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und
nach dieser flüssigen Seife, die man in Bahnhofstoiletten findet. Auf der
breiten Gipswand forderte eine handgemalte Aufschrift, Ruhe zu halten.
Irgendwo spielte ein Radio. Sie stiegen zwei Treppen hinauf und blieben vor
einer grünen Tür mit Glasscheiben stehen. Darauf stand in weißen Bakelitziffern
die Nummer 34. Leclerc nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von den
Schläfen. Es war die gleiche Geste, die er wohl vor dem Betreten einer Kirche
gemacht hätte. Es hatte stärker geregnet, als ihnen bewußt geworden war. Ihre Mäntel
waren ziemlich naß. Er läutete. Avery hatte plötzlich große Angst. Er warf
einen Blick auf Leclerc und dachte: das ist deine Sache, du sagst es ihr. Die
Musik schien lauter geworden zu sein. Sie lauschten angestrengt auf irgendein
anderes Geräusch, aber sie hörten keines.
    »Warum
haben Sie ihn Malherbe genannt?« fragte Avery unvermittelt.
    Leclerc
läutete noch einmal, und dann hörten sie es beide: ein Wimmern, halb das
Schluchzen eines Kindes, halb das Jammern einer Katze. Es war ein erstickter,
metallisch klingender Seufzer. Während Leclerc zurücktrat, griff Avery nach dem
bronzenen Türklopfer auf dem Briefkasten und bewegte ihn heftig. Als das Echo
verhallt war, hörten sie aus der Wohnung einen leichten, zögernden Schritt.
Ein Riegel wurde zurückgeschoben, ein Schnappschloß geöffnet. Dann vernahmen
sie wieder, diesmal viel lauter und deutlicher, den gleichen klagenden Ton. Die
Tür öffnete sich einen Spalt breit und Avery sah ein Kind, ein dünnes, blasses
kleines Mädchen, das nicht älter als zehn Jahre sein mochte. Sie trug wie
Anthony eine Stahlbrille. In den Armen hielt sie eine Puppe, deren rosa Glieder
stumpfsinnig vom Körper abstanden und deren gemalte Augen zwischen zerzausten
Baumwollfransen hervorstarrten. Der verschmierte Puppenmund klaffte halb
offen, der Kopf hing wie gebrochen oder tot zur Seite. Man nennt so etwas
Sprechpuppe, aber kein Lebewesen wird je derartige Laute von sich geben.
    »Wo ist
deine Mutter?« fragte Leclerc. Seine Stimme klang aggressiv, als fürchte er
sich.
    Das Kind
schüttelte den Kopf. »Ist in der Arbeit.«
    »Wer paßt
denn auf dich auf?«
    Sie sprach
langsam, als denke sie an etwas anderes.
    »Die Mama
kommt am Nachmittag nach Hause. Ich darf nicht aufmachen.«
    »Wo ist
sie? Wohin geht sie?«
    »Arbeiten.«
    »Wer kocht
dir das Mittagessen?« beharrte Leclerc. »Was?«
    »Wer gibt
dir zu essen?« sagte Avery schnell.
    »Mrs.
Bradley. Nach der Schule.«
    Dann
fragte Avery: »Wo ist dein Vater?« Das Kind lächelte und legte einen Finger an
die Lippen.
    »Er ist
mit einem Flugzeug weg«, sagte sie, »um Geld zu bekommen. Aber ich darf es
nicht sagen. Es ist ein Geheimnis.«
    Keiner von ihnen sprach. »Er
bringt mir ein Geschenk mit«, fügte sie hinzu. »Woher?« fragte Avery.
    »Vom
Nordpol, aber es ist ein Geheimnis.« Ihre Hand lag noch immer auf dem Türgriff.
»Von wo der Weihnachtsmann kommt.«
    »Sag deiner Mutter, daß zwei
Herren hier waren«, sagte Avery. »Von der Firma deines Vaters. Wir kommen am
Nachmittag wieder.«
    »Es ist wichtig«, sagte Leclerc.
Das Mädchen schien seine Angst zu verlieren, als es hörte, daß die beiden
Männer seinen Vater kannten. »Er ist mit einem Flugzeug weg«, wiederholte sie.
Avery suchte in seiner Tasche und gab ihr die 5 Shilling, die er in der Nacht
von dem Taxifahrer auf Sarahs Zehnshillingstück herausbekommen hatte. Sie
schloß die Tür und ließ sie in diesem verfluchten, von träumerischer Radiomusik
erfüllten Stiegenhaus stehen.
     
    4. Kapitel
     
    Sie
standen auf der Straße und sahen einander nicht an. »Warum haben Sie diese
Frage gestellt? Die Frage nach ihrem Vater?« sagte Leclerc. Als Avery keine
Antwort gab, fügte er zusammenhanglos hinzu: »Es handelt sich nicht darum, ob
man Leute mag.«
    Leclerc
wirkte manchmal so, als ob er weder höre noch fühle. Dann schien er
davongetrieben zu werden, während er innerlich nach einem entschwundenen Ton
lauschte, wie ein Tänzer, nachdem die Musik zu seinen Bewegungen plötzlich
verstummt ist. Eine Stimmung tiefster Traurigkeit schien dann über ihm zu
liegen, oder die ratlose Verwirrung, die ein Betrogener empfindet.
    »Ich fürchte«, sagte Avery
mitfühlend, »daß ich heute nachmittag nicht mit Ihnen hierher zurückkommen
kann. Vielleicht möchte Woodford Sie begleiten.«
    »Bruce
taugt nicht für so was.« Dann fügte Leclerc hinzu: »Werden Sie um Viertel vor
elf zur Konferenz

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