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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schatten von gestern (Smiley Bd 1)
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sollte sofort nach Europa zurückgehen, um fast nicht erprobte Agenten in
Deutschland zu aktivieren, die man für so einen Notfall angeworben hatte. Ich
begann, die vielen komischen Namen und Adressen auswendig zu lernen. Meine
Reaktion, als ich Dieter unter ihnen fand, können Sie sich wohl vorstellen.
    Als ich
sein Dossier las, entdeckte ich, daß er sich mehr oder weniger selbst gestellt
hatte, indem er im Konsulat in Dresden erschien und Aufklärung darüber
verlangte, warum niemand gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland auch
nur einen Finger rührte.« Smiley machte eine Pause und lachte in sich hinein.
»Dieter hatte eine große Begabung dafür, Leute in Aktion zu setzen.« Er warf
Mendel und Guillam einen Blick zu. Beide sahen ihn aufmerksam an.
    »Ich
glaube, daß meine erste Reaktion Ärger war. Der Junge war gerade vor meiner
Nase herumspaziert, und ich hatte ihn nicht für geeignet gehalten. Was für
einen Blödsinn hatte da irgend so ein Esel in Dresden gemacht? Und dann war ich
erschrocken, so einen Hitzkopf unter meinen Leuten zu haben, dessen impulsives
Temperament mein Leben und das anderer kosten konnte. Trotz der leichten
Veränderungen meines Äußeren und des neuen Decknamens, unter dem ich
arbeitete, würde ich mich Dieter gegenüber einfach nur als George Smiley von
der Universität zu erkennen geben müssen, und er konnte mich haushoch
auffliegen lassen. Es schien mir ein unglücklicher Anfang zu sein, und ich war
schon halb entschlossen, mein Netz ohne Dieter aufzubauen. Ich irrte mich
aber. Er war ein großartiger Agent.
    Er
unterdrückte seine Hitzköpfigkeit nicht, sondern verwendete sie in sehr geschickter
Weise zu einem doppelten Bluff. Wegen seiner Invalidität kam er für den Dienst
mit der Waffe nicht in Betracht und fand einen Büroposten bei der Bahn. In
kürzester Zeit hatte er sich in eine wirklich verantwortliche Stellung
hinaufgearbeitet, und die Menge von Informationen, die er lieferte, war
einfach phantastisch. Einzelheiten über Truppenverschiebungen und Munitionstransporte,
ihr Ziel und das Datum, wann sie durchkamen. Später berichtete er über den
Erfolg unserer Bombenangriffe und bezeichnete kriegswichtige Ziele. Er war ein
brillanter Organisator, und das, glaube ich, hat ihn gerettet. Er hat bei der
Eisenbahn eine erstklassige Arbeit geleistet, machte sich unentbehrlich und
schuftete Tag und Nacht. Er wurde fast unangreifbar. Sie haben ihm sogar eine
Zivilauszeichnung für besondere Verdienste gegeben, und ich glaube, daß die
Gestapo sein Dossier einfach absichtlich verschwinden ließ.
    Dieters
Theorie stützte sich ganz auf Faustsche Gedanken: Denken allein ist wertlos.
Man muß handeln, damit das Denken wirksam wird. Er sagte immer, daß der
größte Fehler, den der Mensch je gemacht hätte, der sei, daß er zwischen Geist
und Körper unterschied. Eine Ordnung, die nicht beachtet wird, existiert
nicht. Er zitierte gerne Kleist: >Wenn alle Augen aus grünem Glas wären und
alles, was weiß zu sein scheint, in Wirklichkeit grün wäre, dann wäre man so
klug wie vorher<, oder so ähnlich.
    Wie
gesagt, Dieter war ein hervorragender Agent. Er brachte es sogar fertig, daß
gewisse Frachten in Nächten mit guten Flugbedingungen auf den Weg gebracht
wurden, so daß unsere Bomber ein leichtes Spiel hatten. Er hatte eine Menge
eigener Tricks - war ein Genie für das Drum und Dran der Spionage. Es war
absurd, anzunehmen, daß das von Dauer sein konnte, aber die Erfolge unserer
Bombardierungen waren häufig so groß und weit verstreut, daß es kindisch
gewesen wäre, sie auf den Verrat einer einzigen Person zurückzuführen - ganz zu
schweigen von einer Person, die so offensichtlich im Scheinwerferlicht stand
wie Dieter.
    Wo er
seine Hand im Spiel hatte, war meine Arbeit leicht. Er reiste auch eine Menge,
hatte einen besonderen Paß, mit dem er das konnte. Die Weiterleitung der
Nachrichten war ein Kinderspiel, verglichen mit der Situation bei anderen
Agenten. Gelegentlich trafen wir uns sogar persönlich und redeten miteinander
in irgendeinem Cafe. Manchmal nahm er mich in einem Wagen des Ministeriums mit,
und wir fuhren hundert oder hundertfünfzig Kilometer auf einer Autobahn, als
hätte er mich aus Gefälligkeit mitgenommen. Aber häufiger pflegte er die Reise
mit meinem Zug zu machen, mit mir auf dem Gang die Aktenmappen auszutauschen
oder mit Paketen ins Theater zu kommen und mir den Garderobenzettel zu geben.
Er gab mir selten wirkliche Berichte, sondern

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