Carre, John le
zu
lassen. Ich versuchte, einige von ihnen für kurze Zeit auf Studentenreisen
nach England zu bringen. Ich legte großen Wert darauf, überhaupt keinen Kontakt
mit dem Departement zu haben, wenn ich nach Hause kam, denn damals hatten wir
überhaupt keine Ahnung von der Schlagkraft der deutschen Gegenspionage. Ich
erfuhr nie, an wen man herantrat, und das war natürlich viel besser so. Für den
Fall, daß ich hochging, meine ich.
Meine
Geschichte beginnt eigentlich im Jahre 1938. Ich war allein in meiner Wohnung.
Es war ein warmer und friedlicher Abend nach einem herrlichen Sommertag. Als
hätte man vom Faschismus noch nie etwas gehört. Ich arbeitete in Hemdsärmeln an
meinem Schreibtisch vor dem Fenster - nicht sehr intensiv, weil es ein so
schöner Abend war.«
Er machte
eine Pause, aus irgendeinem Grunde aus dem Konzept geraten, und fingerte an
seinem Portweinglas herum. Ganz oben auf seinen Wangen erschienen zwei rote
Flecken. Er fühlte sich leicht beschwipst, obwohl er sehr wenig getrunken
hatte.
»Also, um
es zu wiederholen«, sagte er und kam sich idiotisch vor. »Entschuldigen Sie,
ich drücke mich wohl etwas unklar aus . . . Also, auf jeden Fall, wie ich so
dasaß, klopfte es an die Tür, und ein junger Student kam herein. Er war
neunzehn, wie ich später hörte, sah aber jünger aus. Sein Name war Dieter Frey.
Er war einer meiner Schüler, ein intelligenter Junge, und er sah bemerkenswert
gut aus.« Smiley machte wieder eine Pause und starrte vor sich hin.
Vielleicht
war es seine Krankheit, seine Schwäche, daß die Erinnerung ihn so stark
überwältigte.
»Dieter
war ein hübscher Junge mit einer hohen Stirn und einem nicht zu bändigenden
schwarzen Haarschopf. Der untere Teil seines Körpers war krank, ich glaube,
durch Kinderlähmung. Er benützte einen Stock und stützte sich schwer darauf,
wenn er ging. Naturgemäß gab er an einer so kleinen Universität eine
romantische Figur ab, man hielt ihn für eine Art Byron oder so etwas Ähnliches.
Ich meinerseits konnte allerdings nie etwas Romantisches an ihm finden. Die
Deutschen haben eine Leidenschaft für die Entdeckung junger Genies, wissen Sie,
von Herder bis Stefan George, man hat sie praktisch von der Wiege an
abgestempelt. Aber Dieter konnte man nicht zur Hoffnung der Nation erklären. In
ihm war ein wilder Unabhängigkeitsdrang, eine Rücksichtslosigkeit, die so
stark war, daß sie auch den überzeugtesten Förderer abgeschreckt hätte. Diese
ablehnende Verteidigungsbereitschaft an Dieter kam nicht nur von seinem Leiden,
sondern auch von seiner Abstammung. Er war nämlich Jude. Wie in aller Welt er
es fertigbrachte, sich an der Universität zu behaupten, habe ich nie
verstanden. Möglicherweise wußten sie nicht, daß er Jude war. Seine Schönheit
konnte vielleicht ebensogut aus dem Süden stammen, nehme ich an, aus Italien
etwa. Aber ich verstehe es eigentlich nicht ganz, denn für mich war er ganz
offensichtlich ein Jude.
Dieter war
ein Sozialist. Er machte kein Geheimnis aus dieser seiner Einstellung, nicht
einmal in jenen Tagen. Ich überlegte eine Zeitlang, ob ich ihn nicht zur
Anwerbung in Betracht ziehen sollte, aber es kam mir sinnlos vor. Er zu
flatterhaft, reagierte zu rasch, war zu stark gefärbt und zu eitel. In allen
Vereinen-Diskussionsklubs, politischen und literarischen Vereinen und so
weiter - gab er den Ton an. In allen Sportvereinen hatte er Ehrenstellungen. Er
brachte es fertig, an einer Universität nicht zu trinken, an der man seine
Männlichkeit dadurch bewies, daß man die ersten beiden Semester fast
ununterbrochen betrunken war.
Das war
also Dieter: ein großer, hübscher, intelligenter Krüppel, das Idol seiner
Generation - ein Jude. Und das war der Mann, der mich an jenem Sommerabend
besuchte.
Ich bat
ihn, Platz zu nehmen, und bot ihm etwas zum Trinken an. Das letztere lehnte er
ab, deshalb machte ich Kaffee, auf so einem Gaskocher, glaube ich. Wir sprachen
flüchtig über meine letzte Vorlesung über Keats. Ich hatte mich darüber
beklagt, daß deutsche kritische Methoden auf die englische Literatur
angewendet würden, und das hatte zu einer heftigen Diskussion geführt - wie
üblich - über die Nazi-Interpretation der »entarteten Kunst«. Dieter brachte
das Ganze wieder aufs Tableau, erklärte immer unverblümter, daß er das moderne
Deutschland ablehne, und ging auch schließlich auf den Nazismus selbst los.
Natürlich war ich auf der Hut - ich glaube, damals war ich nicht so ein Narr
wie heute. Schließlich
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