Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
warum man den Menschen, wenn er wirklich so lange in Gefangenschaft geschmachtet hatte, auf einmal freiließ, und nicht nur das, sondern mitten in eine große Stadt gebracht hat, wo er das ungeheuerste Aufsehen erregen, also notwendigerweise seine Peiniger verraten mußte. Eine solche Logik will mir nicht einleuchten.«
»Mein Gott, dafür lassen sich mancherlei Erklärungen denken,« erwiderte der Präsident ruhig; »entweder man war seiner überdrüssig geworden; ihn länger zu beherbergen war mit Schwierigkeit, ja mit Gefahr verknüpft; sein Kerkermeister konnte den Auftrag erhalten haben, ihn zu töten, faßte jedoch in einer begreiflichen Regung des Erbarmens oder der Anhänglichkeit oder der Furcht den Entschluß, ihn auf andre Art verschwinden zu lassen, und wo konnte das mit mehr Aussicht auf Erfolg geschehen als gerade in einer großen Stadt? Man dachte sich die Sache so: der Rittmeister Wessenig, dem mitgegebenen Schreiben folgend, steckt ihn unter die Soldaten; dort gibt es der Analphabeten und Halbidioten die Menge, dort wird er nicht weiter auffallen, vermeinte der Verbrecher in einemOptimismus, der freilich nur von seiner eignen Unbildung zeugt. Als aber die Dinge einen ganz andern Weg nahmen, bekam er’s mit der Angst, teilte sich, mußte sich denen mitteilen, welche die Fäden von Anfang an in der Hand hielten, und diese mußten zusehen, wie sie den furchtbarsten Zeugen ihrer Schuld wieder unschädlich machen konnten, der nun, geschützt von einer Welt, ihnen als Auferstandener gegenübertrat.«
»Sehr fein, sehr fein,« murmelte der Hofrat beifällig, ohne merken zu lassen, daß er keineswegs überzeugt war.
Spät nachmittags kamen sie in die Stadt zurück. Caspar trennte sich von den Herren und ging heimwärts. Auf dem Promenadeweg begegnete er Frau von Imhoff. Sie begrüßte ihn und fragte, warum er sich so lange nicht bei ihr sehen lasse.
»Hab’ keine Zeit, hab’ viel zu arbeiten,« antwortete Caspar, doch mit so verlegenem Gesicht, daß die kluge Dame merkte, dies könne nicht der wahre Grund sein. Sie unterließ es aber, ihn auszuforschen, und fragte ablenkend, ob er sich auch des Frühlings recht erfreue.
Caspar schaute in die Luft und in die Kronen der Ulmen, als habe er den Frühling bis jetzt übersehen, und schüttelte den Kopf. Gern hätte er vieles gesagt, das Herz war ihm voll, übervoll, doch auf der Zunge lag es wie ein Stein, und er hatte nicht das Gefühl, daß diese Frau, so freundlich sie sich auch gab, wirklich für ihn aufgelegt sei. Was kann es nutzen? dachte er.
»Ich habe Ihnen einen Gruß zu bestellen,« sagte sie dann beim Abschied und nachdem sie ihn für den Sonntag zu Tisch gebeten hatte;»erinnern Sie sich noch der Geschichte meiner Freundin, die ich am Abend, als Lord Stanhope bei uns war, erzählt habe? Die läßt Sie grüßen. Und ein Gruß bedeutet bei ihr viel.«
»Wie heißt die Frau?« fragte Caspar, genau wie damals, nur nicht lächelnd und froh, sondern zerstreut.
Frau von Imhoff lachte; diese Wißbegier nach einem Namen erschien ihr komisch. »Kannawurf heißt sie, Clara von Kannawurf,« antwortete sie gutmütig.
Ganz hübsch, daß sie mich grüßen läßt, dachte Caspar, während er seinen Weg fortsetzte, aber was kann es nutzen? Was soll’s mir nutzen?
Quandt begibt sich auf ein heikles Gebiet
Kaum war Caspar zu Haus in die Wohnstube getreten, so merkte er, daß etwas Besonderes los sein mußte. Quandt saß am Tisch und korrigierte mit finsterer Miene die Schülerhefte, die Lehrerin wiegte den Säugling auf den Knien und erwiderte, dem Beispiel ihres Mannes folgend, seinen Abendgruß nicht. Die Lampe war noch nicht angezündet, ein scharlachner Abendhimmel flammte durch die Fenster, und als Caspar seinen Hut aufgehängt, ging er wieder hinaus in den Hof. Dort spielte das vierjährige Söhnchen des Lehrers mit Schussern, Caspar setzte sich daneben auf die Steinbank; nach einer Weile erschien Quandt, und kaum hatte er die beiden beieinander gesehen, als er hineilte, dasKind bei der Hand ergriff und es rasch wie von einem mit ansteckender Krankheit Behafteten wegführte.
Caspar folgte alsbald dem Lehrer ins Haus. Doch Quandt war nicht im Zimmer, und er traf die Frau allein. »Was gibt es denn bei uns, Frau Lehrerin?« fragte er.
»Na, wissen Sie denn nicht?« versetzte die Frau befangen. »Haben Sie denn nichts davon gehört, daß sich die Magistratsrätin Behold zum Fenster heruntergestürzt hat? Es steht in der Nürnberger Zeitung
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