Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Umschau die Feuerbachsche Schrift auf Caspars Tisch liegen sah.
»Also doch,« murmelte er bitter.
Er nahm das Buch an sich, suchte unten seine Frau und sagte mit tonloser Stimme: »Jette, ich habe da eine furchtbare Entdeckung gemacht. Der Hauser hat die Schrift des Staatsrats auf seinem Zimmer gehabt. O die gewissenlosen Menschen! Wer doch das wieder eingefädelt hat!«
Die Lehrerin zeigte wenig Verständnis für den Vorfall. »Laß ihn gehen,« oder »sag’s ihm doch,« oder »gib’s ihm nur ordentlich,« war meist alles, was sie zu entgegnen wußte, wenn Quandt ungehalten über Caspar war.
»Wann ist denn der Hauser fort?« erkundigte sich Quandt bei der Magd. Diese wußte von nichts. Da trat Caspar selber ins Zimmer und entschuldigte sich höflich.
»Wo waren Sie denn?« forschte der Lehrer.
»Ich bin zu Feuerbachs gegangen und wollte fragen, wie es dem Staatsrat geht.«
Quandt schluckte seinen Verdruß hinunter und begnügte sich, Caspars Fortgehen als Eigenmächtigkeit zu tadeln. Als er mit dem Jüngling allein war, wandelte er eine Weile ratlos auf und ab. Endlich begann er: »Ich war vorhin auf Ihrer Kammer, Hauser. Ich habe bei dieser Gelegenheit einen Fund gemacht, der mich, gelinde ausgedrückt, sehr mit Bedenken erfüllt. Ich will mich nun über die Schrift des Herrn Staatsrats nicht weiter auslassen, obwohl alle vernünftigen Menschen darüber einer Meinung sind; ich halte mich nicht für befugt, Ihnen gegenüber einen so verdienstvollen Mann herunterzusetzen. Auch will ich nicht weiter untersuchen, wer Ihnen das Buch in die Hand gespielt hat, da ich mich dabei doch nur der Gefahr aussetzen würde, von Ihnen angelogen zu werden. Aber mein Bedenken hat es erregt, daß Sie sogar bei einem solchen Anlaß heimlich verfahren zu müssen glauben. Warum kommen Sie nicht, wie sich’s gehört, zu mir und sprechen sich aus? Denken Sie denn, daß ich Sie des Vergnügens beraubt hätte, eine hübsche Fabel zu lesen, die ein ehemals großer und berühmter,doch nun kranker und geistesmüder Mann verfaßt hat? Weiß ich denn nicht auch, wie Ihnen in Ihrem Innern zumute sein muß, wenn man ein solches Märchen in Ihre Vergangenheit hineinspinnt? Eine Vergangenheit, die Ihnen wahrlich besser bekannt ist als dem armen Staatsrat? Aber warum denn um Gottes willen die ewige Versteckenspielerei? Hab’ ich das um Sie verdient? Bin ich nicht wie ein Vater zu Ihnen gewesen? Sie leben in meinem Haus, Sie essen an meinem Tisch, Sie genießen mein Vertrauen, Sie nehmen teil an unserm Wohl und Wehe, kann Sie denn nichts in der Welt bewegen, Sie heimlicher Mensch, einmal offen und rückhaltlos zu sein?«
O wundersam! Dem Lehrer standen die Augen voller Tränen. Er zog die Schrift des Präsidenten aus der Tasche, ging zum Tisch und legte das Büchlein mit Affekt vor Caspar hin.
Caspar blickte den Lehrer an, als ob dieser in einer weiten Entfernung stehe. Es war etwas Stieres in seinem Blick und eine vollkommene Abwesenheit der Gedanken. Auf der Stirn lag es wie geisterhaftes Gewölk, die Lippen waren geöffnet und zuckten.
Wie böse er aussieht, dachte Quandt und fing an, sich zu ängstigen. »Sprechen Sie doch!« schrie er heiser.
Caspar schüttelte langsam den Kopf. »Man muß Geduld haben,« sagte er wie im Traum. »Es wird sich was ereignen, Herr Lehrer, passen Sie nur auf. Es wird sich bald was ereignen, glauben Sie mir.« Unwillkürlich streckte er die Hand nach dem Lehrer aus.
Quandt kehrte sich angewidert ab. »Verschonen Sie mich mit Ihren Redensarten,« sagte er kalt. »Sie sind ein abscheulicher Komödiant.«
Damit war das Gespräch beendet und Quandt verließ das Zimmer.
Durch den Archivdirektor Wurm erfuhr Quandt, daß Caspar allerdings zu Mittag im Feuerbachschen Haus gewesen war, daß er aber nicht bloß nach dem Befinden des Präsidenten gefragt, sondern auch mit auffallender Dringlichkeit den Staatsrat zu sprechen verlangt habe. Natürlich habe man ihm durchaus nicht willfahren können. Er war noch eine halbe Stunde lang unbeweglich am Tor stehengeblieben, und bevor er sich entfernt, war er um das ganze Haus herumgegangen und hatte zu den Fenstern hinaufgeschaut, wobei sein Gesicht anders als je, wild und verstört, ausgesehen.
Nun kam er aber den nächsten Tag wieder, und ebenso am dritten und vierten Tag, jedesmal mit demselben dringenden Begehren, und jedesmal wurde er abgewiesen. Der Präsident bedürfe der Ruhe, wurde ihm gesagt; sein Zustand, der anfangs zu Besorgnissen Grund gegeben, bessere
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