Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
bleiben, Clara,« erwiderte sie herzlich.
Wieviel Willenskraft gehört doch manchmal dazu, einen Entschluß nicht auszuführen, sagteClara von Kannawurf zu sich selbst; und nach einer Pause des Schweigens wandte sie das Gesicht der Freundin entgegen und fragte: »Warum, Bettine, kannst du Caspar nicht zu dir ins Haus nehmen? Er soll und darf nicht länger beim Lehrer Quandt bleiben. Dieses Haus zu betreten ist mir unmöglich. Seine Lage ist schauderhaft, Bettine. Wozu sage ich dir das! Du weißt es, ihr wißt es ja alle; ihr bedauert es alle, aber keiner rührt nur den Finger. Keiner, keiner hat den Mut zu tun, was er getan zu haben wünscht, wenn das geschehen ist, was er im stillen fürchtet.«
Frau von Imhoff blickte betreten auf ihre Handarbeit. »Ich bin nicht glücklich und nicht unglücklich genug, um mit Aufopferung des eignen einem fremden Schicksal mich hinzugeben,« versetzte sie endlich.
Clara stützte den Kopf in die Hand. »Ihr lest ein schönes Buch, ihr seht ein ergreifendes Theaterstück und seid erschüttert von diesen nur eingebildeten Leiden,« fuhr sie bewegt und eindringlich fort. »Ein trauriges Lied kann dir Tränen entlocken, Bettine; erinnere dich nur, wie du weintest, als Fräulein von Stichaner neulich den ›Wanderer‹ von Schubert sang. Bei den Worten: Dort, wo du nicht bist, ist das Glück, hast du geweint. Du konntest eine Nacht lang nicht schlafen, als man uns erzählte, drüben in Weinberge habe eine Mutter ihr eignes Kind verhungern lassen. Warum ist es immer nur das Unwirkliche oder das Ferne, woran ihr eure Teilnahme verschwendet? Warum immer nur dem Wort, dem Klang, dem Bild glauben und nicht dem lebendigen Menschen, dessen Not handgreiflich ist? Ich versteh’ es nicht, versteh’ esnicht, das quält mich, daran, ja daran verbrenn’ ich.«
Das leise, melodische Stimmchen verging in einem Hauchen. Frau von Imhoff stützte den Kopf in die Hand und schwieg lange. Dann erhob sie sich, setzte sich neben Clara, streichelte die Stirn der Freundin und sagte: »Sprich mal mit ihm. Er soll zu uns kommen. Ich will es durchsetzen.«
Clara umschlang sie mit beiden Armen und küßte sie dankbar. Aber nicht mit freiem Herzen hatte Frau von Imhoff diesen Entschluß gefaßt, und sie atmete seltsam erleichtert auf, als ihr am andern Tag Frau von Kannawurf die Eröffnung machte, Caspar habe sich unbegreiflicherweise hartnäckig gegen den Vorschlag gesträubt, das Haus des Lehrers zu verlassen. Zuerst habe er keinen Grund für seine Weigerung nennen wollen, als er aber Claras Betrübnis wahrgenommen, habe er gesagt: »Dort hat man mich hingebracht, und dort will ich bleiben. Ich will nicht, daß es heißt, beim Lehrer Quandt hat er’s nicht gut genug gehabt, da haben ihn aus Mitleid die Imhoffs genommen. Ich hab’ ja mein Brot und mein Bett, mehr brauch’ ich nicht, und das Bett ist das Allerbeste, was ich auf der Welt kennen gelernt habe, alles andre ist schlecht.«
Da fruchtete keine Einrede mehr. »Schließlich könnt ihr ja mit mir anstellen, was ihr wollt,« fügte er hinzu, »aber daß ich freiwillig hingehen soll, das wird nicht geschehen. Wozu auch? Lang kann’s nimmer dauern.«
So war ihm denn das Wort entschlüpft. War deshalb der tiefe Glanz in seinen Augen? Blickte er deshalb mit stummer Spannung dieStraßen entlang, wenn er morgens zum Appellgericht ging? War’s deswegen, daß er stundenlang am Fenster lehnte und hinüberspähte gegen die Chaussee? Daß er gierig aufhorchte, wenn er irgendwo zwei Menschen leise miteinander reden sah? Daß er täglich dabei sein mußte, wenn der Postwagen ankam, und daß er den Briefboten ausfragte, ob er nichts für ihn habe?
Dem rätselhaften Wesen tat die Zeit keinen Abbruch. Es lag Frau von Kannawurf daran, ihn einer Gebundenheit zu entreißen, die ihn einem innigen Verhältnis zur umgebenden Welt entziehen und jede frohe Betätigung zwangvoll machen mußte. Sie sann immer auf Ablenkung, und jenes Familienfest, von dem ihre Freundin Bettine gesprochen, gab Gelegenheit, damit Caspar wieder einmal aus sich heraus und einer anteilvollen Welt gegenübertrete.
Die Feier wurde von Herrn von Imhoff zu Ehren der Goldenen Hochzeit seiner Eltern veranstaltet und sollte am zwölften September stattfinden. Der junge Doktor Lang, ein Freund des Hauses, hatte zu der Gelegenheit ein sinnreiches Bühnenspiel in Versen verfaßt, welches von einigen Damen und Herren der Gesellschaft ausgeführt werden sollte. Bei den Proben, die im oberen Saal des
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