Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
und rief anscheinend fröhlich: »Auf Wiedersehen!«
Caspar blieb noch lange wie verhext an demselbenFleck stehen. Er hatte Lust, sich ins Gras zu werfen und die Arme in die Erde zu wühlen, für die er plötzlich Dankbarkeit empfand.
Spät kam er heim, blieb aber glücklicherweise ungefragt, denn Quandt war einer wichtigen Besprechung halber zum Hofrat Hofmann befohlen. Er brachte eine Neuigkeit mit. »Höre nur, Jette,« sagte er, »der Staatsrat hat sich während der letzten Tage, die er mit dem Polizeileutnant beisammen war, von der Sache des Hauser gänzlich losgesagt. Er soll sogar mit dem Plan umgegangen sein, die Denkschrift für den Hauser öffentlich als einen Irrtum zu erklären.«
»Wer hat’s gesagt?« fragte die Lehrerin.
»Der Polizeileutnant; es heißt auch allgemein so. Der Hofrat ist derselben Ansicht.«
»Es heißt aber auch, daß der Staatsrat vergiftet worden ist.«
»Ach was, dummes Geschwätz,« fuhr Quandt auf. »Hüte dich nur, daß du dergleichen verlauten läßt. Der Polizeileutnant hat gedroht, daß er die Verbreiter von so gefährlichen Redensarten verhaften lassen und unerbittlich zur Rechenschaft ziehen werde. Was macht der Hauser?«
»Ich glaube, er ist schon schlafen gegangen. Nachmittags war er bei mir in der Küche und beklagte sich über die vielen Fliegen in seinem Zimmer.«
»Weiter hat er jetzt keine Sorgen? Das sieht ihm ähnlich.«
»Ja. Ich sagte ihm, er soll sie doch hinausjagen. Das tu’ ich ja, antwortete er, aber dann kommen immer gleich zwanzig wieder herein.«
»Zwanzig?« sagte Quandt mißbilligend.»Wieso zwanzig? Das ist doch nur eine willkürliche Zahl?«
Man begab sich zur Ruhe.
Am Tage von Feuerbachs Begräbnis trafen Daumer und Herr von Tucher aus Nürnberg ein und stiegen im »Stern« ab. Daumer suchte alsbald Caspar auf. Caspar war gegen seinen ersten Beschützer frei und offen, und doch hatte Daumer den quälenden Eindruck, als sehe und höre ihn Caspar gar nicht. Er fand ihn blaß, größer geworden, schweigsam wie stets und von einer wunderlichen Heiterkeit; ja, ganz zugeschlossen, ganz eingesponnen in diese Heiterkeit, die, seltsam wirkend, dunkle Schatten um ihn warf.
In einem Brief an seine Schwester schrieb Daumer unter anderm: »Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es mache mir Freude, den Jüngling zu sehen. Nein, es ist mir schmerzlich, ihn zu sehen, und fragst du mich nach dem Grund, so muß ich wie ein dummer Schüler antworten: Ich weiß nicht. Übrigens lebt er hier ganz in Frieden und wird wohl, trübselig zu melden, all seine Tage hindurch als ein obskurer Gerichtsschreiber oder dergleichen figurieren.«
Während Herr von Tucher am selben Nachmittag wieder abreiste, und zwar ohne sich um Caspar zu kümmern, blieb Daumer noch drei Tage in der Stadt, da er Geschäfte bei der Regierung hatte. Beim Begräbnis des Präsidenten sah er Caspar nicht; er erfuhr später, daß Frau von Imhoff seine Anwesenheit zu verhindern gewußt hatte. Er machte bald die kränkende Entdeckung, daß Caspar ihm geflissentlich auswich. Eine Stunde vor seiner Abreise sprach er mit dem Lehrer Quandt darüber.
»Kann ein Mann von Ihrer Einsicht um eine Erklärung dieses Betragens verlegen sein?« sagte Quandt erstaunt. »Es ist doch ganz klar, daß er jetzt, wo er eine immer größer werdende Gleichgültigkeit um sich entstehen sieht und die Folgen davon täglich empfinden muß, daß er jetzt durch den Anblick seiner Nürnberger Freunde in Verlegenheit gerät und sie nach Kräften zu meiden sucht. Denn dort stand er ja
in floribus
und glaubte wunder was für Rosinen in seinem Kuchen steckten. Wir aber, verehrter Herr Professor, sind ihm dicht auf der Spur; es wird nicht mehr lange dauern und Sie werden merkwürdige Nachrichten hören.«
Quandt sah bekümmert aus, und seine Worte klangen fanatisch. Ob danach Daumer gerade mit hoffnungsvoller Brust die Fahrt zum heimatlichen Bezirk angetreten habe, steht zu bezweifeln. Fast hätte er wie in jener stillen Nacht, als er Caspar im Geist und leibhaftig an sich gedrückt, klagend über die sommerlichen Felder gerufen: Mensch, o Mensch! Aber dabei hatte es sein Bewenden nicht. Ein zwangvolles Grübeln bemächtigte sich des verwirrten Mannes; in seinem Hirn gährte es wie schlechtes Gewissen, und langsam, den Entschluß zur Tat und Sühne weckend, zur viel zu späten Tat und Sühne, entstand eine erste Ahnung der Wahrheit.
Ein unterbrochenes Spiel
Im Verlauf der folgenden Wochen gab es in den Salons und
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