Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Herr Leutnant, bleiben Sie mir Ihres sonderbaren Vorgehens halber Rechenschaft schuldig.«
Hickel verbeugte sich stumm.
Die Hausfrau und mit ihr einige andre Damen waren bemüht, die Gäste zu beruhigen, aber während die Diener die Kerzen des großen Kronleuchters anzündeten, meldete man Frau von Imhoff, daß ihre Schwiegermutter, die Jubilarin, infolge der ausgestandenen Aufregung unwohl geworden sei und sich auf ihr Zimmer begeben habe. Sie folgte sogleich nach. Dies war ein Signal zu allgemeinem Aufbruch. Der Regierungspräsident und der Generalkommissär mit ihren Frauen verließen zuerst den Saal, und schließlich blieben nur ein paar intime Freunde des Baronsum diesen versammelt und nahmen in gedrückter Stimmung an der weitläufigen Tafel Platz.
»Ich hab’ es immer geahnt, daß uns der gute Lord noch einmal eine grimmige Überraschung bereiten würde,« sagte Herr von Imhoff.
»Was wird aber nun mit dem armen Hauser geschehen?« meinte einer aus der Gesellschaft.
Man sprach allerlei Vermutungen darüber aus; die Unterhaltung kam in Fluß, und wie oft ein unglückliches Ereignis dazu dient, die Phantasie der entfernt Beteiligten wohltätig anzuregen, so auch hier. Man gab sich bis über Mitternacht lebhaften Gesprächen hin.
Caspar hatte sich während des raschen Aufbruchs der Gäste in dem kleinen Ankleidezimmer für die Schauspieler versteckt. Die jungen Leute entledigten sich eilfertig ihres Kostüms und verschwanden. Nach einer Weile kam ein Diener, um die Lichter auszulöschen, und dieser entdeckte Caspar. Als Caspar gegen die Treppe zu ging, hörte er Schritte hinter sich, und Frau von Kannawurf trat an seine Seite. Sie fragte ihn, ob er nach Hause wolle, und er bejahte. »Es regnet,« sagte sie unten beim Tor und streckte die Hand hinaus. Sie wartete ein wenig, um den Regen vorübergehen zu lassen, aber es wurde ein heftiger Guß daraus, und das Wasser knatterte lärmend auf die Bäume und den ausgedörrten Boden. Ein kaltfeuchter Luftstrom schlug ihnen entgegen, und Frau von Kannawurf forderte Caspar auf, mit ihr ins Zimmer zu gehen, es könne allzulang dauern. Er folgte still.
Oben machte sie Licht, dann stand sie und sah versonnen in die Flamme. Ihre Schultern bebten fröstlich. Caspar hatte sich auf das Sofagesetzt. Allgemach spürte er eine so große Müdigkeit, daß es ihn förmlich hintüberzog, und er mußte sich auf den Rücken legen. Da trat Clara zu ihm und ergriff seine Hand, die er ihr jedoch hastig wieder entriß. Er machte die Augen zu, und einen Moment lang war sein Gesicht vollkommen leblos. Frau von Kannawurf stieß einen matten Angstruf aus und fiel neben ihm auf die Knie. Dann rief sie ihre Kammerzofe und bat um Wasser; sie schenkte ein Glas voll und reichte es ihm zu trinken. Er trank ein paar Schlücke. »Was ist dir, Caspar?« flüsterte sie, und zum erstenmal duzte sie ihn. Er lächelte dankbar. »Du bist wie eine Schwester,« sagte er scheu und berührte mit den Fingern das Haar ihres über ihn gebeugten Kopfes. Dieses Wort Schwester hatte in seinem Mund einen eignen Klang; es tönte wie ein nie zuvor gesprochenes Wort.
Clara schmiegte sich an seine Seite; ihr war, als müßte sie ihn wärmen, er aber rückte ängstlich fort, da wollte sie sich wieder erheben, doch betastete er mit der Hand ihren Arm und sah sie an mit einem bittenden Ausdruck von Schmerz und Liebe. »Clara,« sagte er, und sie glaubte vergehen zu sollen oder zu einem andern Leben erwachen zu müssen, denn die schüchtern-flehentliche Art, wie er diesen Namen aussprach, hatte etwas Überirdisches.
Es kam nun so, daß Stunde auf Stunde verging und sie immer nebeneinander lagen, stumm, stumm, regungslos und über und über zitternd beide. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und der Atem seines Mundes floß in die Luft gleich dem ihren.
Als es von der Schloßuhr zwölf schlug, schauerte Clara zusammen. Sie erhob sich und sagte mit tiefer Beteuerung vor sich hin: »Nie, nie, nie, nie.« Dann schritt sie zum Fenster und öffnete es. Der Regen hatte längst aufgehört, das Firmament war klar, der ganze Sternenhimmel lag funkelnd vor ihr da. Ihre volle Brust drängte den unbekannten Welten entgegen, denn von dieser, auf der sie lebte, war sie satt.
Sie sagte zu Caspar, er könne die Nacht im Schloß verbleiben, aber er entgegnete, das wolle er nicht. Sie ging dann hinaus, um zu sehen, ob Frau von Imhoff noch wach sei. Sie schritt am Speisesaal vorbei, wo die Herren noch beim Wein saßen und laut redeten.
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