Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Bürgerstuben der Stadtallerlei sonderliche Dinge zu munkeln. Ohne daß das Gerede bestimmte Formen annahm, wollte man doch in dem plötzlichen Tod des Präsidenten Feuerbach auch weiterhin nichts sehen als die Frucht einer mysteriösen Verschwörung. Eine greifbare Äußerung fiel natürlich nicht; die Flüsterer nahmen sich in acht. Sehr insgeheim raunten sie sich zu, auch Lord Stanhope sei an dieser Verschwörung beteiligt, und nach und nach tauchte das bestimmte Gerücht auf, der Lord gehe damit um, einen Kriminalprozeß gegen Caspar Hauser anzustrengen, und habe sich zu dem Ende schon der Hilfe eines bedeutenden Rechtsgelehrten versichert. Auf einmal bekannte sich kein Mensch mehr zu dem früheren Enthusiasmus für den Grafen, das großartige Andenken, das er hinterlassen, war verwischt, und in einigen maßgebenden Familien, wo er der Abgott gewesen, sprach man bereits mit ängstlicher Vorsicht seinen Namen aus.
Caspars Freunde wurden besorgt. Frau von Imhoff suchte eines Tages den Polizeileutnant auf und erkundigte sich, was von dem Gemunkel zu halten sei. Mit kühlem Bedauern erwiderte Hickel, daß die öffentliche Meinung in diesem Punkt nicht fehlgehe. »Das Blatt hat sich eben gewendet,« sagte er; »Seine Lordschaft sieht in Caspar Hauser jetzt nur einen gewöhnlichen Schwindler.«
Darauf verließ Frau von Imhoff den Polizeileutnant, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne Gruß.
Ei, die sanften Seelen, höhnte Hickel für sich, das Grausen faßt sie an.
Hickel hatte eine neue Wohnung auf derPromenade gemietet und lebte wie ein großer Herr. Woher mag er die Mittel haben? fragten die Leute. Er hat Glück am Kartentisch, sagten einige; andre behaupteten im Gegenteil, daß er fortwährend große Summen verliere.
Auch damit war der Gesprächsstoff nicht erschöpft. Eine andre Seltsamkeit: Im Sommer war aus der Infanteriekaserne ein Soldat auf unaufgeklärte Weise verschwunden. Zu andrer Zeit wäre ein solches Ereignis vielleicht unbeachtet geblieben. Jetzt hefteten sich auch daran allerlei Fabeleien. Es wurde gesagt, jener Soldat, der den Hauser beaufsichtigt, habe von gewissen Geheimnissen Kenntnis erhalten und sei beiseitegeschafft worden. Man wurde furchtsam; man verschloß bei Nacht sorgfältig die Haustüren. Es war nicht mehr geheuer in der guten, stillen Stadt. Wer fremden Namens war, wurde beargwöhnt.
Selbst Frau von Kannawurf erfuhr solchen Argwohn, wenngleich um sie etwas Unantastbares war, das den verleumderischen Worten die Kraft raubte. Dennoch fiel es auf, daß sie sich des Umgangs mit ihresgleichen entzog und sich anstatt dessen häufig unter Menschen der niedersten Volksklasse herumtrieb. Sie verbrachte viele Stunden in geistlosem Gespräch mit Bauernweibern und Arbeiterfrauen, stieg zu ihrem Türmer hinauf oder gesellte sich zu den Kindern, die von der Schule heimkehrten. Da geschah es denn oft, daß sie zum maßlosen Staunen der begegnenden Bürger einen lärmenden Schwarm von Knaben und Mädchen um sich versammelt hatte und in ihrer Mitte lächelnd durch die Gassen zog.
Wahrscheinlich ist sie eine Demagogin, hießes. Gesinnungstüchtige Eltern verboten ihren Sprößlingen, sich an den skandalösen Aufzügen zu beteiligen. Kein Zweifel, auch die Behörde fand das Treiben anstößig, denn einmal am Abend hatte man beobachtet, daß der Polizeileutnant vor dem Imhoffschlößchen Posten faßte; zwei Stunden lang war er in der Dunkelheit unbeweglich unter einem Baum gestanden.
Es ist wahr, Frau von Kannawurf war eine auffallende Person und benahm sich auffallend. Aber ihre kuriosen Handlungen hatten einen Anschein von Leichtigkeit, ja Lässigkeit. Sie hatte eine Art von Lächeln, in welchem sich selbstvergessene Hingebung an irgendein Gedachtes, Gefühltes mit der Verzweiflung über die eigne Unzulänglichkeit aufs rührendste mischten. Sie lebte an allem und in allem, starb mit jedem Seufzer gleichsam dahin, flog mit jeder Freude in eine entrückte Region.
Eines Abends im August trat sie ins Zimmer ihrer Freundin, warf sich wie atemlos vom Laufen auf das Sofa und war lange nicht zu sprechen fähig.
»Was hast du nur wieder getrieben, Clara?« sagte Frau von Imhoff vorwurfsvoll; »das heißt nicht leben, das heißt sich verbrennen.«
»Es hilft nichts,« murmelte das junge Weib erschlafft, »ich muß reisen.«
Frau von Imhoff schüttelte liebenswürdig tadelnd den Kopf. Diese Worte hatte sie seit drei Monaten des öfteren vernommen. »Bis zu unserm Familienfest wirst du doch noch
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