Ostfriesenblut
Ann Kathrin Klaasen war zu sehr in ihre Gedanken vertieft. Sie bemerkte nicht, dass sie beobachtet wurde, während sie auf ihrer Terrasse im Strandkorb saß und auf ihr Handy starrte.
Er schlenderte langsam vorbei und nickte ihr zu. Sein Triumph war, dass er keine Ausstrahlung besaß. Die Menschen sahen ihn und vergaßen ihn sofort wieder. Er hatte viel Zeit fast unsichtbar in ihrer Nähe verbracht.
Ja, er war sich sicher: Er hatte die richtige Wahl getroffen. Er kannte sie zunächst nur aus der Zeitung und von ein paar flüchtigen Fernsehbildern, auf denen sie gar nicht gewirkt hatte wie eine Frau, die am Rande ihrer Kräfte war.
Inzwischen hatte er viele Berichte über sie gesammelt. Der
Ostfriesische Kurier
hatte ihr fast eine ganze Seite gewidmet. Der Kommissarin, die mit psychologischem Einfühlungsvermögen eine irre Serienmörderin gefasst hatte.
Es gefiel ihm, wie Ann Kathrin Klaasen über die Täterin redete. Sie verstand die Motive, begriff, was geschehen war. Besser als jeder Seelenklempner.
Ja, er hatte die richtige Wahl getroffen. Sie würde auch ihn verstehen, egal, wie abscheulich der Rest der Welt seine Morde fand.
Am Anfang hatte Ann Kathrin Klaasen sich blöd dabei gefühlt, zu ihrem Sohn Eike Kontakt per SMS zu halten. Inzwischen war sie froh, wenn er überhaupt mal zurücksimste. Auch wenn die Kommunikationsmöglichkeiten immer größer geworden
waren, redeten die Menschen immer weniger miteinander. So zumindest kam es ihr vor.
Sie rief ihren Sohn schon lange nicht mehr auf dem Festnetztelefon an. Sie hatte jedes Mal Angst, Susanne Möninghoff, die neue Geliebte ihres Exmannes, könnte abheben und mit ihrer verletzenden Freundlichkeit die alte Wunde wieder aufreißen.
Aber auch der Kontakt über Eikes Handy fiel zunehmend schwerer. Tagelang hörte sie nur:
The person you are calling is not available
. Später erklärte er dann, sein Akku sei leer gewesen, und er hätte das Aufladegerät verloren. Auf ihre Nachrichten antwortete er angeblich nicht, weil seine Prepaidkarte leer war.
Sie kam sich dumm dabei vor, ihm hinterherzulaufen. Er war 13 und ihr Sohn. Sie schwankte zwischen dem Gefühl, ihn zu vernachlässigen, und dem, von ihm vernachlässigt zu werden. War sie total austauschbar? Ersetzte ihm die Geliebte seines Vaters die Mutter so vollständig? War Susanne Möninghoff nicht nur eine bessere Liebhaberin, sondern auch noch eine bessere Mutter?
Der Gedanke schmerzte sie. Da fiel es ihr leichter, daran zu glauben, dass ihr Mann, Hero, seine gelernten Fähigkeiten als Therapeut dazu einsetzte, sie von ihrem Sohn zu entfremden. Wenn er das wirklich tat, dann war er sehr gut darin. Er hatte gesiegt. Auf ganzer Linie.
Der Wind wehte von Nordost.
Er hatte das Gefühl, Ann Kathrin Klaasens Haut riechen zu können. Er schloss für einen Moment die Augen und nahm Witterung auf. Er hatte gelernt, sich seinen Opfern gegen den Wind zu nähern. So konnte er sie riechen, aber sie ihn nicht.
Sie benutzte eine Hautcreme mit Nachtkerzenöl. Aber die Creme allein war es nicht. Er hatte sich damit die Arme eingerieben und daran gerochen. Der Duft gefiel ihm überhaupt
nicht. Die Creme entfaltete ihre Wirkung nur auf Ann Kathrin Klaasens Haut, nicht auf seiner. Auch ihre Wäsche duftete so betörend. Er war überzeugt, es war nicht das Waschmittel, sondern Ann Kathrin Klaasen selbst, die der Wäsche ihre Duftnote gab. Wie oft hatte er sich ein Höschen von ihr an die Nase gehalten und tief eingeatmet …
Vielleicht war es besser, dieses große Haus im Distelkamp 13 zu verlassen, dachte Ann Kathrin Klaasen. Alles hier erinnerte sie an Hero und Eike. Daran, wie ihre Ehe auf dem Altar der Kriminalitätsbekämpfung geopfert wurde.
Ja, sie beide waren gut für Ostfriesland. Hero half seinen Klienten, ein freieres, glücklicheres Leben zu führen und mit den Traumatisierungen ihrer Kindheit fertig zu werden, während sie die bösen Jungs einsperrte und alles dafür tat, dass sich jeder Bürger in Ostfriesland sicher fühlen konnte. Dabei war im Laufe der Zeit jeder Tatverdächtige viel wichtiger geworden als die Beziehung zu ihrem Mann und ihrem Sohn. Sie gestand es sich nicht gerne ein, aber genau so war es wohl. Da nutzte es wenig, ihrem Ex vorzuwerfen, dass er sich lieber mit dem Liebesleben seiner Klientinnen befasste als mit dem seiner Frau. Sicherlich kannte er die unterdrückten Sehnsüchte seiner Klientinnen besser als ihre.
Sie wurde wütend bei dem Gedanken. Es tat ihr gut, ihm
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