Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Mond am Himmel stand, verlöschte er die Lampe früher als sonst, setzte sich ans Fenster und verfolgte unverwandt die Bahn des Gestirns. An Vollmondtagen ward er häufig unwohl, es fror ihn am ganzen Leibe, erst der Anblick des Mondes selbst nahm den Druck von seiner Brust. Er wußte, von welchem Dach oder zwischen welchen Giebeln die helle Scheibe emporsteigen müsse, hob sie wie mit Händen aus der Tiefe des Himmels heraus, und wenn Wolken da waren, zitterte er davor, daß sie den Mond berühren könnten, weil er glaubte, das strahlende Licht müsse befleckt werden.
Sein Ohr schien in dieser Zeit manchmal den Lauten einer Geisterwelt zu lauschen. Eines Morgens erhob er sich während des Unterrichts plötzlich, ging zum Fenster und beugte sich weit hinaus. Herr Schmidt, der Studiosus, ließ ihn gewähren, als es aber zu lange dauerte, rief erihn zurück. Caspar richtete sich auf und schloß das Fenster, sein Gesicht war so bleich, daß der Studiosus besorgt fragte, was ihm sei.
»Mir war, wie wenn jemand käme,« versetzte Caspar.
»Wie wenn jemand käme? Wer denn?«
»Ja, wie wenn mich jemand unten gerufen hätte.«
Der Studiosus fand dies wunderlich. Er dachte eine Weile nach und hätte gern eine Frage gestellt. Es war da neuerdings in der Stadt viel von einer seltsamen Geschichte die Rede, die Caspar betraf oder auf ihn gedeutet wurde und die in allen Journalen, auch draußen im Reich, des langen und breiten durchgehechelt wurde. Aber weil Herr von Tucher dem Studiosus aufs strengste verboten hatte, mit Caspar jemals über solche Dinge zu sprechen, nahm er sich zusammen und schwieg.
Nun hatte Caspar seit Monaten die Gewohnheit, alle Zeitungsblätter, die ihm in die Hand kamen und die er sich zum Teil heimlich zu verschaffen wußte – denn Herr von Tucher fürchtete von dieser Seite her Beeinflussungen mit gutem Grund –, aufs genaueste durchzulesen. Hin und wieder geschah es, daß er irgendeine Nachricht, eine Mitteilung über sich selbst entdeckte, und obgleich er noch nie etwas Wesentliches gefunden hatte, bekam er jedesmal Herzklopfen, sobald er nur seinen Namen gedruckt sah. Kurze Zeit nach jenem kleinen Zwiegespräch mit dem Lehrer spielte ihm der Zufall eine schon mehrere Tage alte Nummer der »Morgenpost« in die Hände, und beim Lesen fand er folgende eigentümliche Erzählung:
Vor mehr als zehn Jahren hatte ein Fischer bei Breisach eine schwimmende Flasche aus dem Rheinstrom gezogen, und diese Flasche enthielt einen Zettel, auf welchem geschrieben stand: »In einem unterirdischen Kerker bin ich begraben. Nicht weiß der von meinem Kerker, der auf meinem Thron sitzt. Grausam bin ich bewacht. Keiner kennt mich, keiner vermißt mich, keiner rettet mich, keiner nennt mich.« Dann kam ein halb unleserlicher und verstellter Name, von dem alle deutlichen Buchstaben auch im Namen Caspar Hauser enthalten waren.
Alles das war damals schon von einigen Zeitungen gemeldet worden, war aber bei dem Mangel jeglichen Anhaltspunktes natürlich wieder in Vergessenheit geraten. Da hatte vor vier Wochen etwa irgendein ungenannter Schnüffler den Vorfall aus einem alten Jahrgang der ›Magdeburger Zeitung‹ neuerdings ans Licht gebracht. Andre Journale bemächtigten sich der Angelegenheit, die nach und nach viel Staub aufwirbelte. Auf einmal wurde nachgewiesen, daß seinerzeit ein Piaristenmönch von einer gewissen Regierung bezichtigt wurde, die Flasche in den Rhein geworfen zu haben. Es stellte sich ferner heraus, daß derselbe Mönch plötzlich verschwunden und eines schönen Tages im Elsaß, in einem Wald der Vogesen, ermordet aufgefunden worden war. Den Täter hatte man nie entdeckt.
»Wenn auf diese Spur hin das Mysterium, das über dem Findling schwebt, nicht endlich gelüftet wird,« rief der Querulant in der ›Morgenpost‹, nachdem er die Geschichte also ausführlich berichtet hatte, »dann gebe ich keinen Pfifferling für unsre ganze Justizpflege!«
Caspar las und las. Zwei Stunden verbrachte er damit, die wunderliche Historia immer wieder von vorn anzufangen und beinahe jedes einzelne Wort zu überlegen. Dabei überraschte ihn der Studiosus; er vergewisserte sich, daß es eben dieselbe Affäre sei, von der er neulich nicht sprechen gewollt, und sagte hastig: »Ei, was treiben Sie da, Caspar? Was sagen Sie übrigens dazu? Die meisten Leute halten es für Quark, trotzdem es ein unwiderlegliches Faktum ist, daß die Sache damals in der ›Magdeburger Zeitung‹ gestanden hat. Was sagen Sie dazu,
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