Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Außerordentliche seines Schicksals. Ein reifer Jüngling, der keine Kindheit besessen, die erste Jugend verloren, er weiß nicht wie, ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Altersgenossen, ohne Freunde, gleichsam das einzige Geschöpf seiner Gattung, erinnert ihn jeder Augenblick an seine Einsamkeit mitten im Gewühl der ihn umdrängenden Welt, an seine Ohnmacht, an seine Abhängigkeit von der Gunst und Ungunst der Menschen. Und so ist eigentlich all sein Tun nur Notwehr; Notwehr seine Gabe zu beobachten, Notwehr der umsichtige Scharfblick, womit er jede Besonderheit und Schwäche des andern erfaßt, Notwehr die Klugheit, womit er seine Wünsche anbringt und den guten Willen seiner Gönner sich dienstbar zu machen weiß.
Ja, Eure Exzellenz, er ist ohne Freunde. Denn wir, die ihm wohlwollen, ihn vor der gröbsten Bedrängnis des Lebens bewahren, wirsind doch nur Zuschauer vor dem Ungeheuern seiner Existenz. Und jener vielberedete Mann, Graf Stanhope, darf er in Wahrheit Caspars Freund genannt werden? Was dürfen wir glauben? Wo findet der begründete Zweifel Stillung? Mir ahnt Schreckliches, wenn ich der Erwartungen des Jünglings in bezug auf den Grafen denke, der ein Heiliger, ein Ohnegleichen sein müßte, wenn sich alle Versprechungen erfüllen würden, die mit seinem Auftreten für Caspar verbunden waren. Und erfüllen sie sich nicht, erfüllt sich nur ein Hundertstel von ihnen nicht, so prophezeie ich ein böses Ende. Denn ein solches Herz, aus der Tiefe emporgehoben zum Leben der Welt, aus äußerstem Frieden den ausschweifendsten Lockungen erschlossen, will alles, fordert das ganze Maß des Glücks oder muß, nur um ein weniges betrogen, einer ungemessenen Devastation anheimfallen.
Ich gestehe, daß mein schwarzsichtiges Temperament mehr als das immer unverhohlener werdende Gerede der Hiesigen mir die Kühnheit zu solchen Erwägungen gibt; wie dürfte sich auch mein Mißtrauen an einem so hochgestellten Mann vermessen. Aber man spricht seit heute davon, daß Caspar nach Ansbach in Pflege kommen solle. Frau Behold, die alte Feindin Caspars, trägt das Gerücht in der Stadt herum und verkündet überall mit Schadenfreude, daß aus der englischen Reise und aus den Luftschlössern des Grafen nichts geworden sei. Wie mir meine Schwester erzählt, habe die Magistratsrätin indirekte Nachricht von der Lehrerin Quandt erhalten; beide Frauen sind Jugendfreundinnen und in demselben Haus mitsammen aufgewachsen. Gott verhüte,daß Caspar von diesem Geschwätz etwas erfährt. Ich wäre Eurer Exzellenz sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir darüber genaue Auskunft berichten ließen, damit ich dem ungereimten Geklatsche so entgegentreten kann, wie es für das Wohl unsers Schützlings wünschbar ist.
Feuerbach an Herrn von Tucher:
Dem Verlangen Euer Hochgeboren wie der eingetretenen Notwendigkeit Rechnung tragend, teile ich Ihnen hierdurch mit, daß Sie Ihres Amtes als Vormund Caspar Hausers von heute ab enthoben sind. Eine gleichzeitige Urkunde des Kreis- und Stadtgerichtes wird Ihnen dies in amtlicher Form bekanntgeben, wie auch weiterhin die Verfügung, daß Caspar dem Grafen Stanhope zu überlassen sei; freilich einstweilen nur der Form nach, denn bis die schwierigen und verwickelten Verhältnisse eine Änderung erlauben werden, soll Caspar in der Familie des Lehrers Quandt Aufnahme finden; Lord Stanhope hat während dieser Zeit für seine zweckmäßige Erziehung und Verpflegung zu sorgen, ich selbst werde in Abwesenheit des Pflegevaters über das Wohl des Jünglings wachen. Am siebenten des Monats wird der Gendarmerieoberleutnant Hickel bei Ihnen eintreffen, ein energischer Beamter, der durch Regierungsdekret zum Spezialkurator für die Übersiedlung Caspars nach Ansbach bestellt ist. Seine Lordschaft, Graf Stanhope, hat sich in letzter Stunde entschlossen, einer Handlung, die in den Augen des Publikums einen durchaus amtlichen Charakter tragen soll, fernzubleiben, und dieser Vorsatz hat meine volle Billigung. Ich sehe keine Schwierigkeit darin, Caspar vonder veränderten Lage der Dinge zu unterrichten, und halte die Besorgnisse wegen dieses Punktes für übertrieben. Ich selbst werde dieser Tage eine längst vorbereitete Reise nach der Hauptstadt antreten, ich hoffe bei dieser Gelegenheit eine günstige Wendung in den Lebensumständen Caspars endgültig herbeizuführen.
Baron Tucher an den Präsidenten Feuerbach:
Eurer Exzellenz die untertänige Nachricht, daß der plötzliche Tod meines
Weitere Kostenlose Bücher