Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
gewusst, dass sie die roten Tabletten irgendwann am heutigen Abend benötigen würden.
Hand zum Mund, Rot durch die Kehle, Erinnerung zunichte.
Erneut schwebt die kleine Erinnerungsflocke vorüber. Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass die vage Erinnerung irgendwie mit dem Sortiervorgang und der jetzigen Situation zu tun hat. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte …
Erinnere dich. Schritte nähern sich. Sie kommen näher. Früher hätte ich mich das nie getraut, aber die Geschäfte mit den Archivisten haben mich Geschicklichkeit gelehrt. Ich schraube den Deckel des Behälters auf und lasse die winzige Notiz – erinnere dich – heimlich in meinem Ärmel verschwinden.
»Bitte nehmen Sie die Tablette ein«, fordert die Funktionärin mich auf.
Diesmal habe ich nicht solches Glück wie damals zu Hause. Die Funktionärin, die vor mir steht, wendet nicht den Blick ab, und es gibt kein Gras unter meinen Füßen, in das ich die Tablette treten könnte.
Ich will das nicht! Ich will meine Erinnerungen nicht verlieren!
Und wenn die rote Tablette bei mir genauso wenig wirkt wie bei Ky, Xander und Indie? Dann kann ich mich hinterher an alles erinnern.
Wie auch immer: Ky werde ich nicht vergessen. Ihn können sie mir nicht mehr nehmen, dazu ist es zu spät.
»Jetzt!«, befiehlt die Funktionärin, und ich lege die Tablette in den Mund.
Sie schmeckt salzig. Wie ein Schweißtropfen, eine Träne oder vielleicht ein Schluck Meerwasser.
Kapitel 3
Ky
Der Steuermann wohnt irgendwo in den Grenzgebieten. Er wohnt hier in Camas.
Er wohnt nirgends. Er ist ständig in Bewegung.
Der Steuermann ist tot.
Der Steuermann kann nicht getötet werden.
All diese Gerüchte werden im Lager flüsternd erzählt. Wir wissen nicht, wer der Steuermann ist, nicht mal, ob er männlich oder weiblich, jung oder alt ist.
Unsere Kommandeure erzählen uns, der Steuermann brauche uns und könne ohne uns nichts ausrichten. Uns wird der Steuermann dazu benutzen, die Gesellschaft zu stürzen – und zwar schon sehr bald.
Natürlich können es die Trainees nicht lassen, bei jeder Gelegenheit über den Steuermann zu sprechen. Manche spekulieren, dass unser Chefpilot, der unser Training überwacht, der Steuermann sei – der Anführer der Erhebung.
Die meisten Trainees wollen es dem Chefpiloten unter allen Umständen recht machen, so dass es schon fast peinlich ist. Ich nicht. Ich bin nicht wegen des Steuermannes bei der Erhebung, sondern Cassia zuliebe.
Als ich in dieses Lager gekommen bin, habe ich anfangs befürchtet, die Erhebung würde uns hier ebenso als Lockvögel benutzen, wie es die Gesellschaft getan hat, aber dafür hat sie zu viel in unsere Ausbildung investiert. Nein, ich glaube nicht, dass wir so hart trainiert haben, um dann in den sicheren Tod zu gehen. Doch was geschieht, wenn die Erhebung an die Macht kommt? Darüber wird nicht oft geredet. Es heißt, dann hätten wir alle mehr Freiheiten, und es gäbe keine Aberrationen oder Anomalien mehr. Aber das sind auch schon so ziemlich alle Spekulationen.
Die Gesellschaft hat uns Aberrationen richtig eingeschätzt. Wir sind gefährlich. Ich bin so einer, dem ein guter Bürger nachts nicht im Dunkeln begegnen möchte – ein schwarzer Schatten mit tiefliegenden Augen. Die Gesellschaft glaubt jedoch, ich sei längst in den Äußeren Provinzen umgekommen. Eine Aberration mehr, die sie losgeworden sind.
Ein fliegender Toter.
»Fliegen Sie zwei scharfe Kurven«, befiehlt die Stimme meines Vorgesetzten aus dem Lautsprecher im Armaturenbrett. »Eine Linkskurve nach Süden und dann sofort eine Rechtskurve nach Norden, beide bei hundertachtzig Grad.«
»Zu Befehl«, antworte ich.
Bei der Prüfung muss ich meine Koordinationsfähigkeit unter Beweis stellen und zeigen, dass ich das Schiff beherrsche. Bei einer koordinierten Wendung in sechzig Grad Schräglage ist die Schwerkraft, die auf mich und das Luftschiff einwirkt, doppelt so hoch wie im Normalfall. Ich kann keine abrupten Korrekturen oder Kursänderungen durchführen, weil sonst die Gefahr droht, dass ich das Schiff übersteuere oder es auseinanderbricht.
In den Kurven werden mein Kopf, meine Arme, ja, mein ganzer Körper tief in den Sitz gepresst, und ich muss mich anstrengen, um weiter aufrecht zu sitzen. Als der Druck schließlich nachlässt, klopft mein Herz, und ich fühle mich unnatürlich leicht.
»Hervorragend!«, lobt mein Ausbilder.
Man munkelt, ab und zu beobachte uns der Chefpilot. Er säße im Kontrollturm und
Weitere Kostenlose Bücher