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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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an seinen Augen ablesen. Und ich werde bereit sein.

    Der Tag vergeht, schnell und langsam zugleich. Alle warten. Die Jungen kehren zurück, aber irgendetwas hält sie auf Distanz zu uns. Vielleicht liegt es an den Warnungen des ehemaligen Anführers, der sich in unserer Nähe aufhält, bereit, über das Miniterminal jede Unregelmäßigkeit zu berichten. Fürchten sie die Konsequenzen, falls sie uns etwas tun würden und der Funktionär zurückkehrte?
    Als ich gemeinsam mit den anderen Mädchen meine abgepackte Abendration esse, sehe ich den Jungen mit den verbrannten Händen auf mich zukommen. Ich stehe auf und halte ihm den Rest meines Essens hin. Die Portionen sind so klein, dass alle, die schon länger hier sind, halb verhungert sein müssen.
    »Dumm!«, murmelt Indie neben mir, steht aber ebenfalls auf. Nachdem wir einander im Flugschiff geholfen haben, scheinen wir irgendwie verbündet zu sein.
    »Willst du mich ködern?«, fragt der Junge gehässig, während er sich langsam nähert und den angebotenen Rest Eintopf mit Fleisch und Kohlenhydraten misstrauisch beäugt.
    »Natürlich«, antworte ich. »Du bist der Einzige, der dabei war. Du bist der Einzige, der etwas weiß.«
    »Ich könnte es dir einfach wegnehmen«, provoziert er mich. »Ich könnte mir alles von dir nehmen, was ich haben will.«
    »Könntest du«, stimme ich zu. »Aber das wäre dumm von dir.«
    »Wieso?«, fragt er.
    »Weil dir niemand so zuhören wird wie ich«, sage ich. »Niemand will wissen, was geschehen ist. Außer mir. Ich möchte wissen, was du gesehen hast.«
    Er zögert.
    »Die anderen wollen nichts davon hören, oder?«, frage ich.
    Er lehnt sich zurück und fährt sich mit einer Hand durch die Haare, eine Geste aus früherer Zeit, vermute ich, weil seine Haare jetzt genauso kurz sind wie die der anderen Jungen. »Na schön«, sagt er. »Aber das war in einem anderen Lager. Dem, in dem ich war, bevor ich hierhergekommen bin. Es könnte sein, dass es nicht der war, den du suchst. Aber der Ky, den ich meine, konnte Verse aufsagen.«
    »Welche?«, frage ich.
    Der Junge zuckt mit den Schultern. »Einen hat er immer für die Toten gesprochen.«
    »Wie ging er?«, frage ich.
    »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern«, antwortet er. »Irgendwas mit einem Steuermann.«
    Ich blinzele vor Erstaunen. Kennt Ky auch die Verse des Tennyson-Gedichts? Aber woher? Dann erinnere ich mich an den Tag in den Wäldern, als ich zum ersten Mal die Puderdose geöffnet habe. Ky hat mir später erzählt, dass er mich dabei gesehen hat. Vielleicht hat er auch das Gedicht gesehen und über meine Schulter hinweg mitgelesen, oder ich habe es vor mich hingeflüstert, als ich es auf der Lichtung sitzend wieder und wieder las. Ich lächle.
Wir teilen also auch das zweite Gedicht.
    Neugierig schaut Indie abwechselnd den Jungen und mich an und fragt: »Was hat er mit dem Steuermann gemeint?«
    Achselzuckend erwidert der Junge: »Weiß ich nicht. Er hat das immer dann gesagt, wenn jemand gestorben ist. Weiter nichts.« Dann lacht er freudlos. »In der letzten Nacht dort drüben muss er stundenlang seinen Vers aufgesagt haben.«
    »Was ist in dieser letzten Nacht passiert?«
    »Es hat einen Angriff gegeben«, sagt er, und jetzt lacht er nicht mehr. »Den schlimmsten von allen.«
    »Wann war das?«
    Er schaut auf seinen Stiefel hinunter und sagt staunend: »Vor zwei Tagen. Mir kommt es viel länger vor.«
    »Hast du ihn in dieser Nacht gesehen?«, frage ich mit klopfendem Herzen. Wenn ich diesem Jungen glauben kann, war Ky vor zwei Nächten noch am Leben. »Bist du sicher? Hast du sein Gesicht gesehen?«
    »Nein, nicht sein Gesicht«, erwidert der Junge. »Nur seinen Rücken. Er und sein Freund Vick sind davongelaufen und haben uns dem sicheren Tod überlassen. Sie ließen uns sterben, damit sie ihre Haut retten konnten. Nur sechs von uns haben überlebt. Ich weiß nicht, wo die Wächter die anderen fünf hingebracht haben, ich kam jedenfalls hierher. Ich bin der Einzige von uns hier.«
    Indie wirft mir einen kurzen Blick zu, in dem die unausgesprochene Frage liegt:
Meinst du, er ist es?
    Es sieht Ky gar nicht ähnlich, jemanden im Stich zu lassen. Andererseits ist es durchaus typisch für ihn, die einzige Chance in einer ansonsten ausweglosen Situation zu erkennen und zu nutzen. »Er ist also in der Nacht des großen Angriffs geflüchtet. Und hat euch …« Ich kann den Satz nicht beenden.
    Es ist still hier unter dem freien Himmel.
    »Ich kann es ihnen nicht

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