Cassia & Ky – Die Flucht
aufgeben, nicht die Hände in die Luft werfen und Tränen in den Schmutz weinen, weil sie jemanden suchen muss. Als Einzige inmitten der anderen Mädchen lächelt sie zaghaft.
Ja
, sage ich mir.
Sie wird überleben.
Indie fragt mich nach dem Beutel, und ich reiche ihn ihr. Sie zieht etwas zwischen den Tabletten hervor und gibt sie mir dann zurück. Ich weiß noch immer nicht, was sie verstecken musste, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, sie danach zu fragen. Erst muss ich die Antwort auf eine andere, dringendere Frage finden: Wo ist Ky?
»Ich suche jemanden«, sage ich laut. »Sein Name ist Ky.« Manche sind schon im Gehen begriffen, nachdem der Junge uns die Wahrheit gesagt hat.
»Er hat dunkle Haare und blaue Augen«, rufe ich, ein wenig lauter. »Er kommt aus einer Stadt, ist aber auch mit dieser Gegend vertraut. Er kennt Verse.« Ich frage mich, ob er einen Weg gefunden hat, sie zu verkaufen, sie hier draußen gegen irgendetwas einzutauschen.
Augen in verschiedenen Farben starren mich an – blau, braun, grün, grau. Doch keine Farbe gleicht der von Kys Augen, kein Blau ist das Richtige.
»Ihr solltet jetzt versuchen, euch auszuruhen«, rät der Junge, der uns die Wahrheit eröffnet hat. »Nachts kommt man kaum zum Schlafen. Sie fliegen dann die Angriffe.« Er wirkt erschöpft, und ich sehe ein Miniterminal in seiner Hand, als er sich abwendet. War er einmal der Anführer? Informiert er immer die Neuen?
Auch andere wenden sich ab. Die Apathie erschreckt mich mehr als die Situation an sich. Hier scheint niemand etwas von einer Rebellion oder einem Aufstand zu wissen. Doch wenn es niemanden mehr interessiert, wenn alle aufgegeben haben, wer wird mir dann helfen, Ky zu finden?
»Ich kann nicht schlafen«, sagt ein Mädchen aus unserem Flugschiff leise. »Was, wenn dies mein letzter Tag ist?«
Wenigstens kann sie sprechen. Einige andere scheinen in eine Art Schockstarre verfallen zu sein. Ich sehe, wie ein Junge auf eines der Mädchen zugeht und sie anspricht. Sie zuckt mit den Schultern, wirft uns noch einen Blick zu und entfernt sich zusammen mit dem Jungen.
Mein Herz schlägt schneller. Sollte ich sie aufhalten? Was wird er mit ihr machen?
»Hast du dir mal ihre Stiefel angesehen?«, flüstert Indie mir zu.
Ich nicke. Mir sind sowohl die Schlammkrusten als auch die Stiefel selbst aufgefallen – Gummistiefel mit dicken Sohlen. Genau wie unsere, nur dass ihre an den Seiten mit Einkerbungen versehen sind. Ich kann mir fast denken, was sie bedeuten, welche Art von Markierung das ist. Die Anzahl der Tage, die sie überlebt haben. Mir sinkt der Mut, denn keiner der Jungen hat besonders viele Kerben. Und Ky ist schon seit zwölf Wochen fort.
Allmählich zerstreut sich die Menge. Die Jungen scheinen zu ihren Schlafplätzen zu gehen, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern, außer einigen wenigen, die einen Kreis um uns Mädchen gebildet haben. Sie sehen aus, als erwarteten sie irgendetwas.
Nicht sortieren
, ermahne ich mich.
Sieh hin!
Sie tragen nur sehr wenige Kerben in ihren Sohlen. Sie sind noch nicht in Apathie verfallen. Sie haben noch Sehnsüchte. Sie sind neu. Wahrscheinlich sind sie noch nicht lange genug hier, um Ky gekannt zu haben.
Du sortierst immer noch? Merkst du das nicht?
Einer hat verbrannte Hände, und seine Gummistiefel und Beine sind mit Schwarzpulver beschmutzt bis an die Knie. Er steht im Hintergrund und bemerkt, dass ich seine Hände betrachte. Unsere Blicke treffen sich, und er reagiert mit einer Geste, die mir nicht gefällt. Aber ich senke die Augen nicht. Ich halte seinem Blick stand.
»Du kennst ihn«, sage ich zu ihm. »Du weißt, von wem ich rede.«
Ich habe nicht damit gerechnet, dass er es zugibt, aber er nickt.
»Wo ist er?«, frage ich.
»Tot«, sagt der Junge.
»Du lügst!«, entgegne ich und schlucke die Tränen und die Angst hinunter, die plötzlich in mir aufsteigen. »Aber ich werde dir zuhören, wenn du die Wahrheit erzählen willst.«
»Wie kommst du auf die Idee, ich würde dir irgendetwas erzählen?«, fragt er.
»Weil du nicht mehr viel Zeit zum Reden hast«, erwidere ich. »Die hat keiner von uns.«
Indie steht neben mir, die Augen auf den Horizont gerichtet. Sie hält Ausschau nach dem, was auf uns zukommen mag. Die anderen scharen sich um uns und hören zu.
Im ersten Moment scheint es, als wolle der Junge reden, aber dann lacht er und wendet sich ab.
Doch ich mache mir keine Sorgen. Ich weiß, er wird zurückkehren – ich konnte es
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