Cassia & Ky – Die Flucht
»Wir sollten uns in die Schlucht zurückziehen«, schlage ich vor. Im Westen hinter den Bergen versinkt die Sonne – fast ist sie schon ganz verschwunden – nach einem Tag der Düsternis und des Lichts. Vick tot. Cassia hier.
»Wie hast du das nur geschafft?«, frage ich sie, während ich mich ihr nähere, als wir in die Schlucht hineinschlüpfen. Sie wendet sich um, um mir zu antworten. Ihr Atem streift heiß meine Wange. Wieder umarmen und küssen wir uns, mit sanften und zugleich gierigen Händen und Lippen. Ich flüstere gegen ihre warme Haut: »Wie hast du uns gefunden?«
»Mit dem Kompass«, antwortet sie und drückt ihn mir in die Hand. Zu meiner Überraschung ist es der Kompass aus Stein.
»Wo gehen wir denn jetzt hin?«, fragt Eli ängstlich, als wir den Platz erreichen, an dem wir mit Vick kampiert haben. Der Geruch geräucherter Fische liegt immer noch in der Luft. Im Strahl der Taschenlampe blitzen heruntergefallene Fischschuppen auf. »Wollen wir trotzdem die Ebene überqueren?«
»Das geht nicht«, wendet Indie ein. »Jedenfalls nicht in den nächsten ein, zwei Tagen. Cassia ist krank gewesen.«
»Jetzt geht es mir aber wieder gut«, erwidert Cassia. Ihre Stimme klingt fest.
Ich suche den Feuerstein in meinem Rucksack, um erneut ein kleines Feuer anzufachen. »Wir sollten hier übernachten«, sage ich zu Eli. »Alles andere können wir morgen früh entscheiden.« Eli nickt und beginnt unaufgefordert, Zweige für das Feuer zu sammeln.
»Er ist noch so jung!«, sagt Cassia leise. »Hat die Gesellschaft ihn hier rausgeschickt?«
»Ja«, antworte ich und versuche, mit dem Stein Funken zu schlagen. Vergeblich.
Sie legt ihre Hand auf meine, und ich schließe die Augen. Als ich das nächste Mal zuschlage, fliegen die Funken, und sie hält den Atem an.
Eli bringt einen Arm voller dürrer, trockener Zweige. Als er sie ins Feuer legt, knistert es, und der Geruch von Salbei steigt auf – stechend und wild.
Cassia und ich sitzen so eng beieinander wie möglich. Sie lehnt sich an mich, und ich halte sie fest umschlungen. Ich bilde mir nicht ein, dass ich ihr Halt gebe – sie ist so stark –, aber wenn ich sie nicht hielte, würde ich zerspringen.
»Vielen Dank«, sagt Cassia zu Eli. Ihrer Stimme höre ich an, dass sie ihm zulächelt, und er lächelt zaghaft zurück. Er setzt sich an die Stelle, an der Vick gestern Abend gesessen hat. Indie rutscht ein Stück, um Eli Platz zu machen, und lehnt sich nach vorn, um dem Tanz der Flammen zuzusehen. Sie blickt mich an, und ich sehe etwas in ihren Augen aufblitzen.
Ich wende ihr den Rücken zu und versperre ihr die Sicht auf uns. Mit der Taschenlampe beleuchte ich Cassias Hände. »Was ist passiert?«, frage ich sie.
Sie senkt den Blick. »Ich habe sie mir an einem Seil aufgeschnitten«, erklärt sie. »Wir sind auf der Suche nach dir hinüber in eine andere Schlucht geklettert, dann aber wieder in diese zurückgekehrt.« Sie schaut kurz zu den anderen beiden hinüber, lächelt ihnen zu und lehnt sich näher zu mir. »Ky«, seufzt sie. »Wir sind wieder zusammen!«
Ich habe immer die Art geliebt, wie sie meinen Namen ausgesprochen hat. »Ich kann es auch kaum glauben.«
»Ich musste dich finden!«, sagt sie, legt unter meinem Mantel die Arme um mich und streichelt meinen Rücken. Ich tue dasselbe bei ihr. Sie ist so schmal und klein. Und stark. Niemand sonst hätte geschafft, was sie geschafft hat. Ich ziehe sie noch dichter an mich heran. Der Schmerz und die gleichzeitige Erleichterung, wenn ich sie berühre, sind mir schon seit unserer Zeit auf dem Hügel vertraut, aber jetzt spüre ich beides noch intensiver.
»Ich muss dir etwas gestehen«, flüstert Cassia mir ins Ohr.
»Was denn?«
Sie holt tief Luft. »Ich habe den Kompass nicht mehr. Den, den du mir damals in Oria gegeben hast.« Hastig fährt sie fort, und ihre Stimme klingt tränenerstickt. »Ich habe ihn einem Archivar als Bezahlung gegeben.«
»Ist schon gut«, sage ich und meine es aufrichtig. Sie ist hier. Nach all dem, was wir durchgemacht haben, bedeutet der Verlust des Kompasses auf dem langen Weg hierher nicht viel. Außerdem habe ich ihn ihr nicht gegeben, damit sie ihn für mich aufbewahrt. Es war ein Geschenk. Trotzdem bin ich neugierig. »Was hast du dafür bekommen?«
»Nicht das, was ich erwartet habe«, antwortet sie. »Ich hatte um Informationen darüber gebeten, wo sie die Aberrationen hinbringen und wie ich dorthin gelangen könnte.«
»Cassia!«, stoße ich
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