Cassia & Ky – Die Flucht
Mit großen Augen blickt sie sich um und fragt: »Was ist das denn?«
»Ich will mir das mal näher ansehen«, sage ich und gehe zwischen zwei der Röhrchenreihen hindurch. Ky begleitet mich. Ich fahre mit einer Hand über die Behälter aus glattem, durchsichtigem Plastik. Zu meiner Überraschung sind die Türen nicht abgeschlossen, und ich öffne eine, um den Inhalt besser sehen zu können. Die Klappe zischt leise, als ich sie aufziehe, und überwältigt von der Gleichförmigkeit und der unglaublichen Anzahl überblicke ich die Phalanx der Reagenzgläser.
Ich will es vermeiden, die Röhrchen zu berühren, falls die Gesellschaft ein Alarmsystem installiert hat, deswegen recke ich den Hals, bis ich die Beschriftung des Glases in der Mitte der inneren Reihe erkennen kann. HANOVER , MARCUS . KA . Offenbar ein Name, gefolgt von der Abkürzung für die Provinz Keya. Unter der Provinz sind zwei Daten und ein Strichcode eingraviert.
Dies hier sind Gewebeproben von Menschen, in der Erde eingeschlossen zwischen den Knochen längst verstorbener Kreaturen und den Sedimenten versteinerter Meere, Reihen um Reihen von Glasröhrchen, ähnlich dem von Großvater, das seine Gewebeprobe enthielt.
Hinter dem Schleier von Erschöpfung und Müdigkeit setzen sich die Rädchen meines Sortierverstands in Bewegung, ich kann sie förmlich rattern hören. Ich versuche, einen Sinn in die Zahlen und alles andere hineinzubringen, was ich sehe. Die Höhle ist ein Ort der Konservierung, zufällig einerseits, absichtlich anderseits, der versunkenen Fossilien über uns und der Gewebeproben in den Röhrchen.
Warum hier?
, frage ich mich.
Warum so weit am Rande der Gesellschaft? Bestimmt gibt es bessere Orte, Dutzende.
Es ist das Gegenteil eines Friedhofs. Ein umgekehrtes Lebewohl. Und ich verstehe das. Obwohl ich wünschte, es wäre anders, ergibt das hier für mich mehr Sinn, als Menschen für immer in die Erde zu legen und sie auf die Art und Weise gehen zu lassen, wie es die Farmer tun.
»Das sind Gewebeproben«, sage ich zu Ky. »Aber warum bewahrt die Gesellschaft sie ausgerechnet hier auf?« Ich zittere, und Ky legt den Arm um mich.
»Schon gut«, sagt er.
Aber er hat keine Ahnung.
Den Bergen ist alles gleichgültig.
Wir leben, wir sterben, wir werden zu Stein, liegen in der Erde, treiben hinaus ins Meer oder verbrennen zu Asche, und den Bergen ist das völlig egal. Wir kommen und gehen. Die Gesellschaft ist entstanden und wird irgendwann untergehen. Die Canyons werden weiterexistieren.
»Du weißt also, was das ist«, stellt Hunter fest. Ich blicke hinüber zu ihm. Was muss jemand, der nie in der Gesellschaft gelebt hat, von so etwas halten?
»Ja«, antworte ich. »Aber ich weiß nicht, warum es hier ist. Warte einen Augenblick. Lass mich nachdenken.«
»Wie viele sind es wohl insgesamt?«, fragt Ky.
Anhand der Reihen vor mir stelle ich eine schnelle Schätzung an. »Es sind Tausende«, sage ich. »Hunderttausende.« Die Röhrchen sind klein und füllen Reihe um Reihe, Behälter um Behälter, Gang um Gang die weitläufige Höhle. »Aber nicht genug, um alle Gewebeproben zu enthalten, die im Laufe der Jahre genommen worden sein müssen. Das hier kann nicht das einzige Lager sein.«
»Könnte es sein, dass sie sie aus dem Gebiet der Gesellschaft auslagern?«, fragt Ky.
Verwirrt schüttele ich den Kopf. Warum sollte man das tun? »Sie sind nach Provinzen geordnet«, sage ich, als mir auffällt, dass alle Röhrchen vor mir mit
KA
beschriftet sind.
»Suche Oria«, drängt Ky.
»Es müsste die nächste Reihe sein«, sage ich, rechne nach und gehe schnell an den Vitrinen entlang.
Indie und Hunter stehen nebeneinander und sehen uns an. Als ich um die Ecke biege, finde ich Röhrchen mit der Abkürzung OR für Oria. Die vertraute Abkürzung an so einem seltsamen Ort zu sehen erfüllt mich mit einem merkwürdigen Gefühl, Nähe und Distanz zugleich.
Ich höre ein Geräusch am geheimen Höhleneingang. Wir drehen uns alle um. Eli kommt herein, genau wie Ky, grinsend, sich den Staub aus den Haaren schüttelnd. Ich laufe zu ihm und drücke ihn fest an mich. Das Herz hämmert mir in der Brust bei dem Gedanken an das, was er ganz allein durchmachen musste.
»Eli!«, sage ich. »Ich dachte, du wolltest auf uns warten.«
»Mir geht’s gut«, sagt er und hält über meine Schulter hinweg nach Ky Ausschau.
»Du hast es geschafft!«, ruft Ky Eli zu, und Eli scheint ein Stück zu wachsen. Ich schüttele den Kopf. Sich erst für etwas
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