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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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Stein umschließt mich. Der Durchgang ist stockfinster. Es sind nur wenige Zentimeter zwischen mir und der Erde. Eingequetscht, auf dem Rücken liegend, Dunkelheit vor mir und hinter mir, der reglose Felsen über mir, unter mir und rings um mich. Die Masse der Berge erdrückt mich. Ich habe mich vor ihrer Weitläufigkeit gefürchtet, jetzt fürchte ich mich vor ihrer Nähe.
    Mein Gesicht ist einem Himmel zugewandt, den ich nicht sehen kann, Blau über Stein.
    Ich versuche, mich zu beruhigen und mir zu sagen, dass alles gut ist. Es haben sich schon Lebewesen aus engeren Verhältnissen befreit. Ich bin nur ein Schmetterling, ein Trauermantel, eingesponnen in einen Kokon, blind und mit klebrigen Flügeln. Und plötzlich frage ich mich, ob sich die Kokons manchmal nicht öffnen, ob manch ein Schmetterling einfach nicht stark genug ist, die Hülle zu durchbrechen.
    Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle.
    »Hilfe!«, flüstere ich.
    Zu meiner Überraschung höre ich nicht die Stimme von Hunter vor mir, sondern die von Ky hinter mir.
    »Alles wird gut«, sagt er. »Schieb dich einfach ein bisschen weiter.«
    Trotz meiner Panik höre ich das Melodische in seiner tiefen Stimme, die beruhigende Musik. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass mein Atem seiner ist, dass er bei mir ist.
    »Warte einen Moment, wenn du eine Pause brauchst«, rät er mir.
    Ich stelle mir vor, ich sei noch kleiner, als ich es ohnehin schon bin. Ich krabble in den Kokon und ziehe ihn eng um mich zusammen wie einen richtigen Mantel, eine Decke. Und dann stelle ich mir vor, ich breche nicht aus. Ich bleibe einfach gemütlich darin und warte ab, was passiert.
    Zunächst passiert gar nichts.
    Doch dann spüre ich es. Sogar verborgen in der Dunkelheit weiß ich, dass es da ist. Ein kleiner Teil von mir ist frei, für immer frei.
    »Aber ich schaffe es«, sage ich.
    »Natürlich schaffst du es«, sagt Ky hinter mir, und ich schiebe mich weiter, bis ich freien Raum über mir spüre, Luft zum Atmen, Platz zum Aufstehen.
     
    Wo sind wir?
    Schemen treten aus der Dunkelheit hervor, erleuchtet von winzigen blauen Lichtern am Boden der Höhle, die funkeln wie kleine Regentropfen. Doch ihre strenge Anordnung ist zu unnatürlich, als dass sie vom Himmel gefallen sein könnten.
    Andere Lampen erhellen hohe durchsichtige Vitrinen und Maschinen, die summen und die Temperatur innerhalb der Felswände regeln. Was ich vor mir sehe, ist die Gesellschaft: Kalibrierung, Organisation, Kalkulation.
    Eine Gestalt regt sich, und ich stoße fast einen Schrei aus. Dann komme ich wieder zu mir. Hunter.
    »Das ist ja riesig!«, sage ich, und er nickt.
    »Hier haben wir uns früher immer versammelt«, sagt er leise. »Und wir waren nicht die Ersten. Die Kaverne ist schon uralt.«
    Als ich aufblicke, überläuft mich eine Gänsehaut. Eingebettet in die Wände der großen Höhle sind Muscheln, Umrisse und Knochen toter Tiere, alle in dem Stein eingeschlossen, der einst Schlamm war. Dieser Ort hat schon vor der Gesellschaft existiert. Wahrscheinlich sogar vor den ersten Menschen.
    Als Nächster rutscht Ky in die Höhle, richtet sich auf und schüttelt sich den Staub aus den Haaren. Ich gehe zu ihm und berühre seine Hände, die sich zwar kalt und rau, aber keineswegs wie Stein anfühlen. »Danke, dass du mir geholfen hat«, flüstere ich an seinem warmen Hals. Dann mache ich Platz, damit er sehen kann, wo er sich befindet.
    »Das war eindeutig die Gesellschaft«, sagt Ky, seine Stimme klingt so hohl wie die Kaverne. Er durchquert den Raum, und Hunter und ich folgen ihm. Ky legt die Hand auf die Tür auf der anderen Seite der Höhle. »Stahl«, stellt er fest.
    »Die haben hier nichts zu suchen!«, sagt Hunter angespannt.
    Welch eine Diskrepanz: diese sterile Gesellschaft und das Erdverbundene, Organische.
Die Gesellschaft hatte auch in der Beziehung zwischen mir und Ky nichts zu suchen
, denke ich und erinnere mich daran, wie meine Funktionärin behauptet hat, sie hätten das alles schon vorher gewusst. Die Gesellschaft schlüpft überall hinein wie eine Schlange in einen Spalt, hartnäckig wie Wasser, das auf einen Stein tropft, bis er ausgehöhlt ist und seine Gestalt verändert hat.
    »Ich muss wissen, wofür sie unsere Leute umgebracht haben«, sagt Hunter und zeigt auf die Behälter. Sie sind mit Reagenzgläsern gefüllt, Reihen um Reihen, glitzernd im blauen Licht.
So schön wie das Meer
, zumindest stelle ich es mir so vor.
    Indie taucht als Nächste in der Höhle auf.

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