Casteel-Saga 02 - Schwarzer Engel
machte. »Fahr doch alleine weg«, riet Tony. »Ich habe das immer in deinem Alter gemacht, wenn ich mit mir selbst nicht mehr ins reine kam.«
Also fuhr ich die Küste entlang bis nach Maine hinauf und blieb dort zehn Tage in einem Fischerdorf. Aber auch das brachte mich nicht zur Ruhe. Irgend etwas mußte ich tun, irgend etwas wichtiges.
Ich kam aus meinem Urlaub zurück und fuhr wieder einmal unter den verzierten Toren von Farthinggale Manor durch. Aber diesmal kam ich wieder als Fremde, mit neuen Augen, zu der langen, gewundenen Straße, die zu dem riesigen Haus voller Zauber führte.
Es war noch immer dasselbe, eindrucksvoll, beängstigend und schön. Trotz aller Veränderungen, die ich bemerkte, hätte ich wieder sechzehn sein können. Irgendeine innere Stimme flüsterte mir zu, Troy könnte hier sein. Tony hatte ja erwähnt, daß er nicht ewig wegbleiben könne.
Mein Herz schlug schneller, mein Inneres schien aufzuwachen und sich zu strecken. Dann atmete es tief ein und spürte wieder die Liebe, die es in diesem Haus gefunden hatte. Irgendwo ganz nahe konnte ich Troy förmlich sehen, fühlen und spüren. Lange Augenblicke saß ich nur da und atmete tief die besondere, nach Blumen duftende Luft von Farthinggale Manor ein. Dann stieg ich aus und ging auf die hohe Säulenhalle zu. Curtis antwortete auf mein stürmisches Klingeln, bei meinem Anblick lächelte er warm. »Es tut so gut, Sie wiederzusehen, Miss Heaven«, sagte er mit seiner tiefen, kultivierten Stimme. »Mr. Tatterton geht am Strand spazieren, aber ihre Großmutter ist in ihrer Suite.«
Jillian lebte zurückgezogen in ihren Räumen. Im Schneidersitz saß sie auf ihrem elfenbeinfarbenen Sofa. Sie trug eines ihrer lose sitzenden, gleichfarbigen Negliges, das mit lachsrosa Spitze besetzt war. So hatte ich sie schon oft sitzen sehen, als sie mit sich selbst noch glücklich war.
Bei meinem Eintreten schien sie das Türgeräusch aus einer tiefen Meditation zu wecken. Als Jillian mich ziemlich verängstigt anstarrte, versuchte ich zu lächeln. Sollte ich sie durch mein Erscheinen schockiert haben, so war ich’s durch ihr Äußeres noch mehr.
Ihr Teint glich zersprungenem Porzellan und war unnatürlich weiß. Ihr zielloser Blick verwirrte mich ebenso wie die Art, in der sie ihre blassen Hände drehte und wie ihr die Haare dreckig und ungepflegt ins Gesicht hingen.
Ich drehte mich um, damit sie meinen Abscheu nicht bemerken konnte. Erst dann entdeckte ich in einer entfernten Ecke eine Frau in der weißen Uniform einer Pflegerin, die an einer Spitzenarbeit häkelte. Sie sah auf und lächelte mir zu. »Ich heiße Martha Goodman«, informierte sie mich. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Casteel. Mr. Tatterton hat mir erzählt, man würde Sie täglich zurückerwarten.«
»Wo ist Mr. Tatterton?«
»Nun, er ist draußen und geht am Strand spazieren«, war die leise Antwort, als ob sie Jillian nicht auf ihre Anwesenheit im Zimmer aufmerksam machen wollte. Sie stand auf, zeigte in die Richtung, und ich drehte mich um, um fortzugehen.
Da sprang Jillian in die Höhe und fing an, sich mit nackten Füßen immer weiter im Kreis zu drehen. »Leigh«, plapperte sie wie ein Kind, »sag Cleave einen Gruß von mir, wenn du ihn das nächste Mal siehst! Sag ihm, manchmal tut es mir leid, daß ich ihn wegen Tony verlassen habe. Tony liebt mich nicht, niemand hat mich je geliebt, jedenfalls nicht genug, nicht einmal du. Du liebst Cleave mehr, du hast es immer getan… Aber mir ist das egal, völlig egal. Du bist ganz wie er, von mir hast du nur dein Aussehen. Leigh, warum starrst du mich so an? Warum mußt du nur immer alles so verdammt ernst nehmen?« Rückwärts verließ ich das Zimmer, ihr verrücktes Gelächter folgte mir und brachte die Luft zum Zittern.
Als ich endlich die Tür erreicht hatte, konnte ich nicht widerstehen, doch nochmal einen Blick auf sie zu werfen: Das Bogenfenster rahmte sie ein, Sonnenschein strömte durch ihre Haare und ließ ihre schlanke Figur als Silhouette durch den durchsichtigen Stoff ihres langen, losen Kleides scheinen. Sie war alt, aber paradoxerweise wirkte sie auch irgendwie jung, sie war schön und zugleich grotesk, aber vor allem war sie verrückt und deshalb bemitleidenswert. Ich ging mit dem Bewußtsein weg, daß ich sie nie wieder sehen wollte.
Dann schlenderte ich an der felsigen Küste entlang. Troy hatte hier nie neben mir gehen wollen, so sehr fürchtete er das Meer und seine Vorzeichen. Hier lagen Felsen
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