Casteel-Saga 02 - Schwarzer Engel
mir vorgestellt, irgendeine Großmutter könnte so aussehen wie diese elegante Schönheit im grauen Pelz, mit hohen, grauen Stiefeln und langen grauen Handschuhen. Ihre Haare waren wie eine Kappe aus blaß glänzendem Gold, aus dem Gesicht gekämmt, um ein wohlgeformtes, makelloses Profil zu unterstreichen. Trotz ihres verblüffend jugendlichen Aussehens zweifelte ich nicht daran, wer sie war. Zu sehr glich sie dem Bild, das ich jeden Tag im Spiegel sah. »Komm, komm«, sagte sie zu mir, wobei sie ihren Mann aufforderte, mein Gepäck zu nehmen und sich zu beeilen. »Ich kann öffentliche Plätze nicht ausstehen. Zu Hause können wir uns besser kennenlernen.« Mein Großvater setzte sich in Bewegung, packte meine beiden Koffer, während sie mich am Arm weiterzog. Bald darauf saß ich in einer Limousine, die mit einem uniformierten Chauffeur auf uns wartete.
»Nach Hause«, sagte mein Großvater, ohne den Chauffeur auch nur anzusehen. Als ich zwischen den beiden saß, lächelte meine Großmutter endlich. Sanft nahm sie mich in die Arme, küßte mich und murmelte Sätze, die ich nicht ganz begriff:
»Entschuldige unsere Eile, aber wir haben nicht viel Zeit«, sagte meine Großmutter. »Miles fährt uns direkt nach Hause, liebe Heaven. Wir hoffen, es macht dir nichts aus, wenn wir dir heute Boston nicht zeigen. Übrigens, dieser gutaussehende Mann neben dir ist Townsend Anthony Tatterton. Ich nenne ihn Tony, einige seiner Freunde rufen ihn Townie, um ihn zu ärgern, aber ich schlage vor, du läßt das sein.«
Als ob ich es je gewagt hätte.
»Und mein Name ist Jillian«, fuhr sie fort. Noch immer umklammerte sie meine Hand mit ihren beiden, während ich wie gebannt dasaß, fasziniert von ihrem jugendlichen Aussehen, ihrer Schönheit, vom Klang ihrer leisen, weichen Stimme, die so ganz anders war als alle, die ich zuvor gehört hatte. »Tony und ich möchten alles tun, damit dir dein Besuch bei uns Spaß macht!«
Besuch? Ich war nicht auf Besuch gekommen, sondern um hier zu bleiben, für immer! Ich hatte keinen anderen Platz! Hatte Pa ihnen etwa erzählt, ich käme nur auf Besuch? Welche Lügen hatte er ihnen sonst noch aufgetischt?
Betreten sah ich von einem zum anderen, ängstlich bedacht, ja nicht zu weinen. Denn instinktiv wußte ich, sie hätten Tränen für geschmacklos gehalten. Warum hatte ich nur geglaubt, kultivierte Großstädter hätten Verwendung für eine Hillbilly-Enkelin wie mich? Mein Hals war wie zugeschnürt. Was sollte aus meiner College-Ausbildung werden, wer würde dafür aufkommen, wenn nicht sie? Um ja nicht zu schreien oder das Verkehrte zu sagen, biß ich mir auf die Zunge. Vielleicht könnte ich mich ja selbst durchschlagen, immerhin konnte ich tippen…
So saß ich lange Augenblicke in ihrer schwarzen Limousine, völlig verstört durch das fatale Mißverständnis.
Bevor ich mich von dem Schock erholt hatte, fing ihr Mann mit tiefer, heiserer Stimme zu sprechen an, auf englisch, aber mit einem fremden Akzent: »Ich halte es für das Beste, wenn du gleich von Anfang an weißt, daß ich nicht dein richtiger Großvater bin. Jillian war in erster Ehe mit Cleave VanVoreen verheiratet, der vor rund zwei Jahren starb, und Cleave war auch der Vater deiner Mutter, Leigh Diane VanVoreen.«
Zum zweiten Mal total verblüfft sank ich immer mehr zusammen. Gerade er war ein Vater, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte, ein offener, freundlicher Mann. Meine Enttäuschung war bodenlos. Vor langer Zeit hatte ich geglaubt, mich einmal riesig zu freuen, wenn ich endlich den ganzen Namen meiner Mutter erfahren würde, aber unter diesen Umständen konnte ich mich nicht richtig freuen. Wieder schluckte ich und biß mir noch fester auf die Zunge, ich verabschiedete mich von der Idee, dieser elegante, gutaussehende Mann sei mit mir verwandt, und versuchte mühsam, mir Cleave VanVoreen vorzustellen. Was war das bloß für ein Name? Niemand in den Tälern und Hügeln West Virginias hieß VanVoreen.
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß du bei der Nachricht, ich sei nicht dein richtiger Großvater, so enttäuscht dreinschaust«, meinte Tony mit einem kleinen, amüsierten Schmunzeln. Verwirrt von seinem Tonfall sah ich meine Großmutter fragend an. Aus irgendeinem Grund wurde sie rot, und die Farbe machte ihr hübsches Gesicht noch schöner.
»Ja, meine liebe Heaven, ich bin eine dieser schrecklich modernen Frauen, die sich mit einer unbefriedigenden Ehe nicht einfach abfinden. Mein erster Mann hat mich
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