Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
seiner Mutter.
»Wenn ihr beide noch lang weiterquatscht, geh ich wieder runter. Meint ihr, ich hab sonst nix zu tun?«
»Ich bin schon weg.« Er warf mir ein Lächeln zu und ging hinaus.
»Hast du schon mal jemanden so viel quatschen gehört wie diesen Jungen? Schlägt seinem Großpapa Toby nach, na von mir aus. Der Mann konnte von morgens bis abends auf der Veranda hocken und schnitzen, und dabei quatschte er pausenlos. Und als meine Großmama Annie schon längst tot war, redete er immer noch mit ihr, so als wenn sie noch da gewesen wär.«
»Ich kann das mittlerweile verstehen, Tante Fanny. Es ist so schwer, wenn die Menschen, die man liebt, nicht mehr da sind. Und manchmal weigert man sich einfach, die Wahrheit zu akzeptieren.«
Sie trat zurück und musterte mich. »Schätze, du hast dich ziemlich verändert, Annie. Bist irgendwie reifer geworden, wahrscheinlich durch diese Tragödie und die ganze Geschichte danach. Vielleicht hast du ‘n paar Sachen über die Menschen gelernt, die ich nie gelernt hab. Meine Großmutter sagte immer, schlechte Zeiten lassen einen weise werden. Bei Heaven war es so, das weiß ich. War um einiges gescheiter als ich.
Klar, ich hab auch schwere Zeiten durchgemacht, aber ich hab mich immer selber bemitleidet. Also kam ich nich dazu, was zu lernen.« Sie schüttelte den Kopf.
»So, jetzt quatsch ich fast schon so viel wie Luke. Muß in der Familie liegen. Kümmern wir uns lieber drum, daß du ins Bad kommst und dich anziehst.«
Mrs. Avery kam herein, um mir zu helfen. Welch ein himmelweiter Unterschied lag zwischen ihrer warmherzigen, mütterlichen Hilfsbereitschaft und Mrs. Broadfields routinierter, mechanischer Art! Alles Geld und die Geste medizinischer Betreuung der Welt konnten liebevolle Pflege nicht ersetzen…
Nach kurzer Zeit war ich gebadet und angezogen, und Luke kam zurück, um dabei zu helfen, mich hinunterzubringen.
»Fertig?« fragte er. Sowohl Mrs. Avery als auch Tante Fanny blickten mich gespannt an. Würde ich nun vielleicht doch darum bitten, daß man mir die Mahlzeiten heraufbrachte, oder würde ich der Welt ohne Mammi und Daddy entgegentreten? Ich wandte mich Luke zu. In seinen Augen konnte ich lesen, daß er auch weiterhin an meiner Seite sein würde.
»Ja«, sagte ich. »Ich bin soweit.«
Luke ging hinter den Rollstuhl und beugte sich über meine Schulter.
»Es wird gutgehen«, flüsterte er. Und als Tante Fanny und Mrs. Avery uns den Rücken zuwandten, küßte er mich rasch auf die Wange.
22. K APITEL
S EGEN UND F LUCH DER L IEBE
Sobald wir das Eßzimmer betraten, fiel mein Blick auf die Plätze, auf denen mein Vater und meine Mutter immer gesessen hatten. Die leeren Stühle schienen mich anzustarren, und mein Herz krampfte sich zusammen. Für einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen; alle, auch Luke, sahen zu mir herab. Ihre Gesichter waren von Mitleid erfüllt.
Und dann redeten auf einmal alle durcheinander… Tante Fanny gab Anweisungen, Mrs. Avery beklagte sich über dies und jenes, Roland klatschte in die Hände und kündigte das beste Frühstück von ganz Winnerrow an. Sogar George, der gewöhnlich so stumm wie ein Fisch war, stellte völlig unnötige Fragen: Ob er noch einen Serviettenring bringen solle und ob dies die richtige Karaffe für den Saft sei.
»Hört mal alle zu«, rief ich. »Wir wollen jetzt einfach das Frühstück genießen. Es muß nicht alles perfekt sein; das ist nicht so wichtig. Es ist einfach wunderbar, wieder hier bei euch zu sein. Ich habe euch alle so sehr vermißt!«
Erneut sahen alle zu mir herab, und diesmal las ich Liebe und Zuneigung auf ihren Gesichtern.
»Na, dann können wir ja anfangen«, erklärte Tante Fanny. »Wird ja sonst alles kalt. Wie das Bett von ‘ner alten Jungfer!«
»O je«, meinte Mrs. Avery und preßte die Hände gegen ihre Brust. Wir brachen alle in schallendes Gelächter aus und setzten uns an den Tisch.
»Als erstes hab ich heut morgen ‘nen Termin beim Friseur für dich ausgemacht«, verkündete Tante Fanny.
»Nun«, sagte Luke lächelnd, »heute ist ein herrlicher Tag, ich könnte dich ja im Rollstuhl hinfahren.«
»Oh, das wäre schön.«
Die Stimmung am Frühstückstisch war sehr fröhlich. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viel gegessen zu haben, doch immer wieder kam Roland Star aus der Küche und hatte etwas Neues für mich auf dem Tablett.
Gleich nach dem Frühstück schob mich Luke nach Winnerrow hinunter. Er nahm denselben Weg, den wir
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