Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
beide immer gegangen waren – an den Magnolienbäumen entlang, die die Straße säumten, vorbei an Häusern, in denen Menschen wohnten, die ich alle kannte. Es war ein wunderbarer Tag, einer jener seltenen Spätsommertage, an denen die Sonne hell am strahlend blauen Himmel stand und ein leichter Wind von den Willies herüberwehte. Die Leute winkten uns von ihren Haustüren aus zu; einige kamen sogar herüber, um uns zu begrüßen und mir ihr Beileid auszusprechen.
»Es kommt mir vor, als wäre ich hundert Jahre alt und als wäre ich seit mindestens fünfundsiebzig Jahren nicht mehr hier gewesen«, sagte ich zu Luke.
»Mir geht es genauso«, meinte Luke. »Es ist mir vorher nie aufgefallen, wie schmal unsere Hauptstraße eigentlich ist. Als Kind kam sie mir immer so riesig vor wie jetzt der Times Square von New York City.«
»Bist du enttäuscht?«
»Nein, es gefällt mir eher. Ich denke, ich werde eines Tages hierher zurückkommen, um mich ganz hier niederzulassen. Was meinst du dazu?«
»Ich wahrscheinlich auch. Aber zuerst möchte ich reisen und die Welt sehen.«
»Oh, natürlich, ich auch.«
»Vielleicht will deine zukünftige Frau nicht gerne in einer so kleinen Stadt leben, Luke«, sagte ich und neckte ihn so mit jener schmerzlichen Wahrheit, die ich doch nur allzugerne ignoriert hätte. Aber wir waren Halbgeschwister, und eines Tages würden wir beide jemand anderen lieben…
Bei dieser Anspielung trat ein schmerzlicher Ausdruck auf sein Gesicht. Er blinzelte, und tiefe Falten gruben sich in seine Stirn.
»Das wird sie wohl müssen, wenn sie meine Frau werden will«, erwiderte er ärgerlich, als würde er jene Frau, die nicht ich sein würde, schon jetzt verachten. »Außerdem ist deine Mutter auch nach Winnerrow zurückgekehrt, obwohl sie vorher in einer sehr vornehmen Umgebung gelebt hatte. Wenn es ihr hier gut genug war…«
Ich wollte ihm jetzt nicht den wahren Grund für ihre Rückkehr sagen.
»Sie ist hier aufgewachsen, und als sie zurückkam, erwartete sie ein wundervolles altes Haus und ein großes neues Geschäft. Aber auf dem College wirst du Mädchen aus größeren und interessanteren Städten als Winnerrow kennenlernen. Sie werden es vielleicht hier sehr hübsch finden, aber sie werden dort leben wollen, wo sie in schicken, teuren Geschäften einkaufen, in vornehmen Restaurants essen und ins Theater oder in die Oper gehen können.« Ich haßte es, ihm solche Dinge zu sagen, aber ich wollte, daß er dem Unvermeidlichen gemeinsam mit mir ins Auge sah.
»Solche Mädchen interessieren mich nicht«, fauchte er. »Außerdem kann dir das gleiche passieren. Du wirst wahrscheinlich auch einen Mann treffen, der dich von hier fortbringen will, einen Mann, den ein so einfaches Leben langweilen wird.«
»Ich weiß das, Luke«, sagte ich sanft. Diese Gedanken waren so schmerzlich, und doch war es besser, wenn wir sie endlich aussprachen. Die Phantasie spielen zu lassen, war eine Sache, sich selbst etwas vorzulügen, war etwas ganz anderes. Das hatte ich während meines kurzen, schmerzvollen Aufenthaltes in Farthy gelernt.
»Ich weiß etwas Besseres«, rief er, und seine Miene hellte sich auf. »Laß doch das Mädchen, von dem du annimmst, daß ich es heiraten werde, und den Mann, den ich mir als deinen Ehemann vorstelle, heiraten! Dann werden sie beide glücklich werden.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf. Luke war einfach nicht bereit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Vielleicht wollte er mich ja nur weiterhin schonen?
»Aber Luke, was geschieht dann mit uns?«
»Mit uns? Du… du wirst eine alte Jungfer, ich bleibe Junggeselle, und wir ziehen beide nach Hasbrouck House.«
»Aber werden wir so glücklich sein können?« fragte ich betrübt.
»Solange ich mit dir zusammen bin, Annie, werde ich immer glücklich sein«, beharrte er. »Ich hätte sicher immer das Gefühl, daß ich dich daran hindere, ein normales Leben zu führen, Luke.«
»Das darfst du nicht sagen«, bat er und blieb abrupt stehen. Ich wandte mich um und sah, wie verletzt er durch meine Worte war.
»Nun gut, es tut mir leid«, entschuldigte ich mich, aber er sah immer noch so aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
»Ich meine, Annie, ich könnte nie ein Mädchen heiraten, außer, es wäre wie du. Und…«, fügte er langsam hinzu, »es gibt keine, die so ist wie du.«
Der Blick, den er mir zuwarf, war so leidenschaftlich, daß mein Herz rasend zu klopfen begann. Plötzlich wurde mir bewußt, daß die
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