Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
sollte es wissen? Was sollte ich wissen?« Mein Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus.
»Das hat er nicht gesagt, Annie. Er wollte mit Ihnen persönlich sprechen, und deshalb habe ich Sie gesucht.«
»Oh. Sagen Sie ihm, daß ich komme.« Ich holte tief Luft, konnte aber nicht verhindern, daß ein kalter Schauer meinen Rücken herunterlief.
Ich folgte Mrs. Avery, so schnell ich konnte. Jetzt, da ich wieder auf meinen eigenen Beinen stand, enttäuschte und ärgerte es mich, daß ich noch so langsam war.
Mrs. Avery reichte mir den Hörer, und ich setzte mich hin.
»Hallo«, sagte ich mit dünner, ängstlicher Stimme. Ich hatte das Gefühl, mein Herzklopfen müßte am anderen Ende der Leitung zu hören sein.
»Annie!« Ich erkannte seine Stimme sofort, so wie es zweifellos auch meine Mutter getan hätte, wenn sie sie nach vielen, vielen Jahren wieder gehört hätte. »Ich dachte, du würdest es wissen wollen. Vielleicht möchtest du ja sogar zur Beerdigung kommen.«
»Zur Beerdigung?« Mir blieb das Herz stehen, und ich hielt den Atem an.
»Tony ist vor wenigen Stunden verstorben. Ich habe an seinem Bett gesessen.«
»Verstorben?« Plötzlich tat mir Tony leid. Einsam und verbittert hatte er die letzten Tage seines Lebens in dem Glauben verbracht, die Frau die er liebte, hätte ihn erneut verlassen. Durch mich hatte er die Tragödie seines Lebens nochmals durchlebt. Ungewollt war ich zur Mitspielerin geworden in einem Drama, das viele, viele Jahre zurücklag. So als wäre ich die zweite Besetzung, war mir eine Rolle zugefallen, die zu spielen auch Mammi gezwungen gewesen war. Jetzt endlich war der Vorhang für immer gefallen, die Lichter waren ausgegangen, die Schauspieler hatten die Bühne verlassen. Tony Tattertons Qualen hatten ein Ende gefunden.
Troys Stimme jedoch war voller aufrichtiger Trauer; es war keine Erleichterung zu spüren. Er hatte einen Bruder verloren, der einst fast ein Vater für ihn gewesen war.
»O Troy, es tut mir so leid. Ich wußte nicht, daß er krank war. Du warst bei ihm?«
»Ich hatte mich gerade zu dem Entschluß durchgerungen, mich öfter bei ihm sehen zu lassen und ihm in einer Zeit, in der er ganz verzweifelt jemanden brauchte, tröstend zur Seite zu stehen. Denn was ich dir erzählt habe, stimmt – er hat sich immer um mich gekümmert, wenn ich krank war. Und«, fügte er mit versagender Stimme hinzu, »er hat mich sehr geliebt. Letztendlich hatten wir ja auch nur uns beide…«
Meine Kehle war wie zugeschnürt, und einen Augenblick lang konnte ich nicht mehr schlucken. Ich bemerkte, daß meine Augen voller Tränen waren. Es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, wie Troy an Tonys Bett saß und seine Hand hielt, während das Leben aus dem Körper seines älteren Bruders wich.
»Woran ist er gestorben?« fragte ich schließlich mit tonloser Stimme.
»Es war ein Schlaganfall. Anscheinend hatte er vor einiger Zeit bereits einen erlitten, allerdings einen sehr leichten, aber ich hatte nie davon erfahren.«
»Drake rief mich vor kurzem an und erzählte mir, er hätte mit Tony gesprochen, aber er hat nichts davon erwähnt, daß Tony ernsthaft krank sei.«
»Er schloß sich in seinem Zimmer ein, so daß nicht einmal Rye wußte, was mit ihm los war. Als er es dann bemerkte, war es bereits zu spät. Wenigstens war ich ganz am Ende bei ihm. Er redete sehr wirr und brachte alle Leute durcheinander. Nach einer Weile war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob er wußte, wer ich bin, aber er rief deinen Namen und ich mußte ihm versprechen, mich um dich zu kümmern und dafür zu sorgen, daß es dir gut geht. Ich… Ich weiß, daß er schwere psychische Qualen durchlitten hat, und ich vermute, daß du das manchmal miterleben mußtest. Aber er war harmlos. Er war einfach ein Mensch, der nach Liebe suchte und nach einem Weg, seine Sünden wiedergutzumachen… etwas, was wir letztendlich alle auf die eine oder andere Weise tun.«
»Ich weiß.« Ich fragte mich, ob er aus meinem Tonfall heraushören konnte, wieviel ich tatsächlich über Tony wußte. »Ich weiß, daß Tony in Wirklichkeit mein Großvater war, Troy. Er hat es mir ins Gesicht geschrien, als ich wegging, und meine Tante Fanny hat es bestätigt.«
»Oh, so ist das.« Seine Stimme klang rauh. »Ich möchte das, was er getan hat, nicht entschuldigen, aber seine Ehe war tatsächlich außerordentlich kompliziert, leidvoll und schwierig.«
»Ja.« Ich hatte keine große Lust, jetzt über all das zu reden. »Troy, ich
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