Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
waren zu groß, um durch den Türrahmen hindurchzugreifen und es herauszuholen. Es gab nur eine Möglichkeit: Ich mußte das Papier auf die Art herausholen, auf die es sicherlich auch hineingesteckt worden war – mit einer Pinzette.
Ich fand eine Pinzette in der Schublade von Mammis Toilettentisch, und mit dem Auge und der Fingerfertigkeit eines Chirurgen führte ich sie durch die winzige Tür. Ich bekam das geheimnisvolle Papier zu fassen, und als ich es Zentimeter für Zentimeter herauszog, sah ich, daß es ganz klein zusammengefaltet worden war, bis es in das Versteck gepaßt hatte.
Vorsichtig zog ich es aus der Hütte heraus und legte es auf den Tisch. Dann stellte ich das Dach wieder an seinen Platz zurück, um die klingende Melodie zu unterbrechen, und begann das Papier zu entfalten. Im Laufe der Jahre war es brüchig geworden und vergilbt; die Ränder des Papiers bröckelten und drohten in meinen Fingern in Staub zu zerfallen.
Schließlich hatte ich es ganz entfaltet und breitete es vor mir aus. Es war ein Blatt von normaler Briefpapiergröße. Die Worte waren nur noch schwer zu entziffern, aber ich kämpfte mich hindurch.
Du meine große, meine einzige und doch verbotene Liebe. Mehr als je zuvor erscheint mir die gestrige Nacht wie ein Traum. Das ganze Jahr über hatte ich es mir so viele Male vorgestellt, und nun, da es wirklich geschehen ist, kann ich kaum glauben, daß es nicht nur Traum war.
Ich habe hier gesessen und an Dich gedacht, mir unsere kostbaren gemeinsamen Augenblicke ins Gedächtnis zurückgerufen, die Liebe in deinen Augen und die Zärtlichkeit Deiner Berührungen. Ich konnte nicht anders, ich mußte zu meinem Bett gehen, um nach ein paar Haaren von Dir zu suchen. Gott sei Dank gelang es mir, einige zu finden. Ich werde ein Medaillon für sie anfertigen lassen und sie dann direkt am Herzen tragen. Es tröstet mich zu wissen, daß ich immer etwas von Dir bei mir haben werde.
Ich hatte gehofft, noch eine Weile hierbleiben zu können, obwohl mir klar war, daß es eine Qual sein würde. Ich wollte Dich von Zeit zu Zeit auf Farthy heimlich beobachten können. Es hätte mir zugleich Vergnügen und Schmerz bereitet, zu sehen, wie Du im Park spazierengehst oder wie Du dasitzt und liest. Ich hätte mich benommen wie ein dummer Schuljunge, das weiß ich.
Heute morgen, kurz nachdem Du gegangen warst, kam Tony zu mir in die Hütte und erzählte mir die Neuigkeit, die Du mir sicher ebenfalls mitteilen willst. Aber wenn Du kommst, werde ich bereits fort sein. Ich weiß, es scheint grausam, daß ich Tony ausgerechnet jetzt allein lasse, aber ich gab ihm all den Trost, den ich ihm schenken kann, als er hier war und wir die Möglichkeit hatten, in Ruhe über alles zu sprechen.
Ich habe ihm nichts von uns erzählt, nichts von Deinem Besuch letzte Nacht. Er weiß nicht, daß Du über meine Existenz Bescheid weißt. Ich konnte nicht mit ihm darüber sprechen, er hat zur Zeit genug andere Probleme. Vielleicht wirst du irgendwann einmal das Gefühl haben, er sollte es wissen. Ich überlasse die Entscheidung Dir.
Vielleicht fragst Du Dich, warum ich die Notwendigkeit verspüre, so kurz nach Jillians Tod fortzugehen.
Nun, meine geliebte Heaven, so schwierig es für Dich sein mag, das zu verstehen, aber ich fühle mich schuldig… Ich muß zugeben, daß es mir gefallen hat, Jillian mit meiner Anwesenheit zu quälen. Wie ich Dir erzählt habe, hat sie mich einige Male gesehen, und ich wußte, daß sie jedesmal zutiefst erschrak. Ich hätte ihr die Wahrheit erzählen können, hätte sie wissen lassen können, daß ich nicht tot bin, aber ich zog es vor, sie in dem Glauben zu lassen, sie sähe einen Geist. Ich wollte sie ein wenig quälen, denn obwohl es nicht ihre Schuld war, daß Du als Tonys Tochter geboren wurdest, konnte ich ihr doch nie verzeihen, daß sie es mir gesagt und damit diese unüberwindliche Wand zwischen Dir und mir errichtet hat. Sie war immer sehr eifersüchtig und ärgerte sich maßlos über die Zuneigung, die Tony für mich empfand. Das war schon so, als ich noch ein kleiner Junge war.
Jetzt fühle ich eine schreckliche Schuld auf mir lasten. Ich hatte nicht das Recht, sie zu bestrafen. Ich hätte erkennen müssen, daß ich damit nur Tony und auch Dir Schmerz zufüge. Anscheinend bringe ich allen Menschen in meiner Umgebung nur Kummer und Unglück. Natürlich denkt Tony nicht so. Er wollte nicht, daß ich weggehe, aber schließlich habe ich ihn überzeugt, daß es so am besten
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