Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
lesen war. Sie neigte den Kopf leicht zur Seite, und ihr Blick war unverwandt in die Ferne gerichtet, als lausche sie einer Musik, die nur sie hörte…
»Es ist noch nicht fertig«, sagte ich hastig, denn ich fürchtete, daß sie irgend etwas Kritisches sagen könnte. Obwohl Daddy und sie meine Malerei von Anfang an immer unterstützt hatten, fühlte ich mich immer noch unsicher. Daddy hatte so wunderbare Künstler in seiner Fabrik; sie gehörten zu den talentiertesten Menschen des Landes. Er wußte, was wahre Kunst war.
»Warum malst du nicht ein Bild von den Willies, Annie?« Sie wandte sich um und zeigte auf die Berge. »Ich würde gerne etwas in dieser Art ins Eßzimmer hängen. Die Willies im Frühling mit ihren blühenden Bäumen und den singenden Vögeln! Deine Bilder sind so gut, wenn du dir beim Malen die Natur zum Vorbild nimmst.«
»O Mammi, meine Arbeiten sind aber noch nicht gut genug, um aufgehängt zu werden«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
»Aber du hast Talent, Annie.« Ihre blauen Augen sahen liebevoll und ermutigend auf mich. »Es liegt dir im Blut«, flüsterte sie, als würde sie mir etwas Schlimmes anvertrauen.
»Ich weiß, Großvater hat wunderschöne Hasen und andere Waldtiere geschnitzt.«
»Ja.« Meine Mutter seufzte, und die Erinnerung ließ ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht gleiten. »Ich sehe ihn noch vor mir, wie er vor der Hütte saß und stundenlang schnitzte, wie er ein formloses Holzstück in ein Waldtier verwandelte, das von Leben erfüllt schien. Es ist so wunderbar, wenn man künstlerisch begabt ist, Annie!«
»O Mammi, ich bin wirklich noch nicht gut genug«, meinte ich, »aber ich hoffe sehr, daß ich rasch Fortschritte machen werde.«
»Natürlich bist du gut, und natürlich wünschst du dir auch nichts sehnlicher, als eine richtige Malerin zu sein – eben wegen… wegen deiner künstlerischen Veranlagung.« Sie hielt einen Augenblick inne, als hätte sie mir gerade ein großes Geheimnis offenbart. Dann lächelte sie und küßte mich auf die Wange.
»Komm mit mir, Drake«, sagte sie, »ich möchte einige Sachen mit dir besprechen, ehe ich es vergesse und du wieder auf dem College bist.«
Drake kam zuerst zu mir herüber und betrachtete mein Bild.
»Ich habe vorhin nur Spaß gemacht, Annie. Es ist sehr gut«, sagte er fast flüsternd, damit ihn meine Mutter nicht hörte. »Ich verstehe deinen Wunsch, größere und aufregendere Orte als Winnerrow kennenzulernen. Irgendwann wirst du dieses Nest verlassen«, sagte er und wandte sich dabei halb zu Luke um. »Du wirst nicht immer nur in deiner Phantasie anderswo sein.«
Mit diesen Worten ging er zu meiner Mutter hinüber. Sie schob ihren Arm unter seinen, und sie gingen auf den Vordereingang von Hasbrouck House zu. Eine Bemerkung von Drake ließ sie laut auflachen. Ich wußte, daß er einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnahm, weil er sie so sehr an ihren Vater erinnerte. Sie ging gerne Arm in Arm mit ihm durch die Straßen von Winnerrow.
Manchmal sah ich, wie Lukes Blick sehnsüchtig auf ihnen ruhte. Dann verstand ich, wie sehr er sich eine richtige, intakte Familie wünschte. Dies war einer der Gründe, warum er so gerne zu uns herüberkam, auch wenn er nur still dasaß und uns beobachtete. Hier gab es einen Vater und eine Mutter, wie er sie sich gewünscht hätte.
Ich spürte, daß Lukes Blick auf mir lag, und wandte mich um. Sein Gesicht war bekümmert, so als könne er meine Gedanken lesen und wüßte, wie traurig ich manchmal war – trotz des Reichtums, der uns umgab. Von Zeit zu Zeit beneidete ich die Familien, die ärmer waren als wir, denn ihr Leben schien so viel einfacher als unseres… Auf ihrer Vergangenheit lastete kein Geheimnis; sie hatten keine Verwandten, derer sie sich schämen mußten, keine Halbbrüder, keine Halbonkel. Nicht daß ich irgend jemanden in der Familie hätte missen mögen; ich liebte sie alle. Selbst Tante Fanny liebte ich. Es war, als wären wir alle Opfer ein und desselben Fluchs, der auf unserem Geschlecht lastete.
»Willst du weitermalen, Annie?« fragte Luke, und seine blauen Augen glänzten hoffnungsvoll.
»Hast du es nicht satt?«
»Nein. Und du?« fragte er.
»Ich werde das Malen nie leid, vor allem nicht, wenn ich dich male«, erwiderte ich.
2. K APITEL
G EBURTSTAGSGESCHENKE
Lukes und mein achtzehnter Geburtstag war ein ganz besonderer Tag für uns beide. Meine Eltern kamen an diesem Morgen in mein Zimmer, um mich zu wecken. Daddy
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